VON OBDACHLOSEN- ZU STRASSENZEITUNGEN
: Reclaim the streets

Bewegungen auf dem Berliner Zeitungsmarkt

VON HELMUT HÖGE

Im Oktober veranstaltete und leitete die taz-Mitarbeiterin Gaby Sohl einen „Ideentag Straßenzeitung“. In die Bundeszentrale für politische Bildung lud sie vornehmlich Leute ein, die sich mit Obdachlosigkeit befassen (zum Beispiel den Künstler Milovan Markovic) und/oder eine Obdachlosenzeitung im deutschsprachigen Raum herausgeben. Am Ende kamen dabei 86 Ideen zusammen, wie man diese Zeitungen und ihren Straßenverkauf verbessern könnte: „Eine Wäscheleine voller Ideen“.

Die 7. Idee lautete: „Die Mitwirkung von Obdachlosen bei den Straßenzeitungen gezielt stärken!“ Die 8.: „Verbindung mit sozialen Einrichtungen suchen!“ Und die 44.: „Straßenzeitungen könnten gemeinsam einen eigenen Verlag gründen und dort anspruchsvolle Werke von AutorInnen mit Bezug zum Thema ‚Straße‘ veröffentlichen. Da passt drucktechnisch ein ganzer Roman rein. Ziel ist: Bekannte AutorInnen sagen irgendwann: ‚Es wäre mir eine Ehre, zu allererst in einer Straßenzeitung veröffentlicht zu werden.‘ “

Nachdem er diese und andere Ideen auf strassenzeitungen.taz.de gelesen hatte, meldete sich ein Mitarbeiter des Berliner Vereins StreetCom. Holger Sengstock. Er kommt aus dem sächsischen Döbeln, arbeitete vier Jahre im dortigen Kulturverein mit und schrieb für die Döbelner Allgemeine. Dann zog er nach Berlin. Ohne Job und eigene Wohnung, aber mit Skrupel, fremde Leute auf der Straße um Geld zu bitten, verkaufte er erst mal die Obdachlosenzeitung moz: „Das hat mir sehr geholfen“.

Mit Spontanspenden

An guten Tagen verdiente er damit inklusive „Spontanspenden“ in den U-Bahnen binnen drei Stunden 40 Euro, abzüglich einer Tageskarte: „Denn Zeitungsverkäufer, die ein Ticket haben, werden von den Kontrolleuren meist in Ruhe gelassen. Eigentlich ist der Zeitungsverkauf auf U-Bahn-Gelände nämlich verboten.“

Sein Verein hatte ursprünglich vor, eine „Community“ für Straßenverkäufer zu bilden – als Parallelgruppe zu den Redaktionen. Weil einige aus der siebenköpfigen Gruppe bei einer Obdachlosenzeitung angestellt waren, liefen die Vorbereitungen dazu in aller Stille ab. Als jedoch ruchbar wurde, dass sie eine eigene Zeitung, ein „Streetjournal“, herauszugeben beabsichtigten, gab es Ärger: „Das war krass“, so Holger Sengstock.

Seiner Gruppe sind die Obdachlosenzeitungen zu „wenig modern: Wir wollen zum Beispiel raus der Schmuddelecke, wie eine der 86 Ideen lautete. Und die Straßenverkäufer auch schulen, damit sie nicht immer endlos rumstottern, dass und warum sie obdachlos sind – obwohl es oft gar nicht stimmt. Sie nerven aber damit die Fahrgäste. Manche pöbeln sogar rum, wenn ihnen niemand was abkauft. Und betteln ist auch schlecht. Die erfolgreichen Verkäufer machen das ganz anders. Wir wollen sie weiterbringen, damit sie nicht ewig Zeitungen verkaufen müssen.“ Holger Sengstock ist optimistisch: „Wir werden genug Verkäufer kriegen, die haben alle die Schnauze voll von den Obdachlosenzeitungen.“

Weil auch viele „normale Leute“ die Zeitungen verkaufen, soll in dem neuen Blatt nicht immer nur über Armut berichtet werden, sie wollen unter anderem auch Kreuzworträtsel veröffentlichen. Es gibt bereits einige Beiträge für die erste Nummer, die im Januar erscheint – sie stehen vorerst im Netz unter www.streetjournal.de. Holger Sengstock meint: „Das ist alles noch ein bisschen wirr, es fehlt der Feinschliff. Aber dafür, dass wir das zum ersten Mal machen, ist es schon ganz gut.“ Ihre Straßenzeitung versteht sich als eine Weiterentwicklung der Obdachlosenzeitungen bis hin zu ihrer Ersetzung – nicht zuletzt, indem sie einige der „Social Media“-Ideen darin umsetzen.

Echte Konkurrenz

Straßenzeitungen gab es in den 70er Jahren schon einmal, in Berlin sogar mehrere (883, Hundert Blumen, Bambule etc.). Aber was es damals noch nicht gab, das waren linke Tages- und Wochenzeitungen wie taz, Junge Welt, ND, Freitag sowie die demnächst erscheinende Behindertenzeitung von Karsten Krampitz: Mondkalb. Ob die neue „Straßenzeitung“ sich daneben behaupten und zudem gegen die alten Obdachlosenzeitungen durchsetzen kann, ist fraglich.