Luzider Träumer

Bei dieser Wiederentdeckung wird der Leser zum Detektiv und Traumdeuter: Leo Perutz’ Roman „Der Meister des Jüngsten Tages“

VON VOLKER HUMMEL

Wer nach einer Nacht voll unruhiger Träume schon einmal versucht hat, diese am nächsten Morgen auf Papier zu bannen, wird den Frust kennen: Was übrig bleibt vom unbewussten Bilderrausch, sind meist rasch verblassende Details und intensive Gefühlsschemen, die sich in keinen Plot mehr fassen lassen.

Freiherr von Yosch, der Erzähler aus Leo Perutz’ jetzt glücklich wieder aufgelegtem Roman „Der Meister des Jüngsten Tages“, stellt gleich im Vorwort klar, dass es in seinem Bericht keine Träumereien, keine Leerstellen gibt: „Ich habe die volle Wahrheit geschrieben. Nichts übergangen, nichts unterdrückt – wozu auch?“ Dass seine Erinnerung nicht trügt, dafür führt er die „Unzahl Einzelheiten“ an, die er bewahrt habe – um sich anschließend zu wundern, dass sich ihm „von der Länge des Zeitraums, in dem sich das alles abgespielt hat, eine ganz falsche Vorstellung herausgebildet“ habe.

Dass die Diskrepanz zwischen Detailtreue und Trübung seines Zeitgefühls Yosch nicht vom Erzählen abhält, macht ihn wenn schon nicht zum Träumer so doch immerhin unglaubwürdig. Umso mehr, als der Bericht, den er vorlegt, von einer rätselhaften Todesserie handelt, in denen Yosch eine undurchsichtige Rolle spielt.

In einer solchen Situation wird der Leser selbst zum Traumdeuter und Detektiv: In dem, was ihm mitgeteilt wird, muss er das mal unbewusst, mal ganz gezielt Verborgene entdecken. Damit eine solche Erzählkonstellation zum Vergnügen wird, braucht es einen Autor, der den Leser mit einem handfesten Plot bei der Stange hält und ihn zugleich mit Andeutungen, Abschweifungen und Widersprüchen zum Entdecken latenter Bedeutungsschichten einlädt.

Leo Perutz (1882–1957) ist ein Meister in der Konstruktion solcher Geschichten. Eines der zentralen Motive seines vielschichtigen Werkes, das der Zsolnay Verlag seit einigen Jahren wieder herausbringt, könnte man ganz postmodern ontologische Verunsicherung nennen: Durch seinen erfinderischen Umgang mit den Regeln der Genreliteratur stellte Perutz in all seinen Büchern die Vorstellung einer einheitlichen Realität in Frage.

Vor allem bekannt geworden ist Perutz durch historische Romane wie „Der schwedische Reiter“ (1936) und „Nachts unter der steinernen Brücke“ (postum 1959 erschienen), in denen er historische Fakten und Figuren in neue und unheimliche, aber immer plausible Zusammenhänge bringt. Am Ende seines 1933 erschienenen Romans „St. Petri-Schnee“, in dem er mit erstaunlicher Voraussicht die Wirkungen von LSD beschreibt, das Albert Hofmann fünf Jahre später erstmals herstellen sollte, sieht sich der Leser zwei gleichermaßen plausiblen Versionen einer Geschichte gegenüber, die von den Versuchen eines Barons handelt, Religion als chemisch induzierte Massenhysterie zu entlarven.

In „Der Meister des Jüngsten Tages“ von 1923 hat Perutz sein literarisches Vexierspiel ins Gewand eines klassischen Kriminalromans gehüllt. Im Zentrum steht der Tod des Schauspielers Eugen Bischoff, dessen Leiche während einer Abendgesellschaft in einem von innen verschlossenen Gartenpavillon gefunden wird. In der Hand hält er einen Revolver, aus der Pfeife im Aschenbecher steigt noch etwas Rauch auf. Spätestens wenn Freiherr von Yosch bei der Schilderung des Tatorts ankommt, gewinnen in seinem Bericht dunkle Ahnungen und auffällige Ellipsen die Oberhand. Verbergen sich dahinter Gedächtnislücken, ein Schuldbekenntnis oder gar noch dunklere Geheimnisse? Für den Schwager Bischoffs ist der Fall klar: Da er seine frühere Geliebte Drina, die spätere Frau Bischoffs, zurückgewinnen wollte, hat Yosch ganz bewusst dem Schauspieler vom Bankrott eines Bankhauses erzählt, der dessen finanziellen Ruin und damit den Freitod besiegelte.

Schützenhilfe gegen diese ehrenrührigen Anschuldigungen erhält Yosch von dem Ingenieur Solgrub und dem Arzt Gorski, die sich im Stile eines Holmes-Watson-Gespanns an die Aufklärung der mysteriösen Falles machen. Ihre detektivisch-rationalen Nachforschungen werden aber schon bald zu einer „abenteuerlichen Jagd, die Verfolgung eines unsichtbaren Feindes, der nicht von Fleisch und Blut, sondern ein furchtbarer Revenant aus vergangenen Jahrhunderten war“, wie Yosch dunkel im Vorwort raunt. Als Schlüssel zur Aufklärung des Falls erweist sich schließlich ein altes Manuskript, das von einem Maler erzählt, dem nach dem Genuss eines Wundermittels am Himmel das Drommetenrot erscheint, mit dem sich das Jüngste Gericht ankündigt und zugleich vollzieht.

Perutz-Bewunderer Theodor W. Adorno bezeichnete diese in keinem Lexikon der Welt zu findende Farbe in seiner berühmten „Ästhetischen Theorie“ als das Unsubsumierbare der Kunst, das auf nichts anderes verweist und daher eher dem Rausch als der intellektuellen Erfahrung entsprungen ist. Mit dem Auftauchen des Drommetenrots scheint die Repräsentation tatsächlich auf allen Erzählebenen an ihr zu Ende kommen: Die Inspiration des Malers versiegt, dem kriminalistischen Bericht des Freiherrn von Yosch wird jede rationale Grundlage entzogen.

Doch wo die Repräsentation versagt, da beginnt manchmal erst die Kunst, so wie im Werk von Leo Perutz, einem der luzidesten Träumer deutscher Sprache. Vielleicht haben ja auch unsere nächtlichen Heimsuchungen die Farbe Drommetenrot, deren Beschreibung uns am nächsten Morgen immer misslingt.

Leo Perutz: „Der Meister des Jüngsten Tages“. Zsolnay, Wien 2006, 224 Seiten, 19,90 Euro