Geht alles. Weiter

In Deutschland leben 50.000 Menschen mit einer HIV-Infektion, über die Hälfte von ihnen hat sich vor mehr als zehn Jahren angesteckt. Mario Wirz etwa: Der Berliner Schriftsteller wurde vor 21 Jahren positiv getestet. Morgen wird er fünfzig

von FABIAN KRESS

Eigentlich ist sein Geburtstag erst morgen, am 3. Dezember. Aber in diesem Jahr hat ihn Mario Wirz, Berliner Autor, bereits vorgefeiert. Am Abend des gestrigen 1. Dezember, des Welt-Aids-Tages, lud er in den Buchladen „Prinz Eisenherz“. Ein schöner Rahmen für einen besonderen Anlass: Mario Wirz wird 50. Und lebt seit mittlerweile über 21 Jahren mit HIV.

Knapp 50.000 Menschen sind in Deutschland aktuell mit dem HI-Virus infiziert, teilte die Deutsche Aidsstiftung erst vor wenigen Tagen mit. 6.000 von ihnen sind erkrankt, im „Vollbild“. Die Zahl der Neuinfektionen ist weiter angestiegen: 2005 waren es in Deutschland 2.500 Fälle, allein in Berlin 450. So hoch war die Zahl der Neuansteckungen seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Was viele trotz aller Aufklärungsarbeit offenbar vergessen haben: Aids ist auch 2006 noch immer tödlich. Jeden Tag sterben in Deutschland zwei Menschen an den Folgen der Immunschwäche.

Dennoch gibt es Hoffnung: Diejenigen, die wie Wirz seit vielen Jahren mit dem Virus leben, hatten das Glück, die aggressiven Medikamentencocktails der ersten Jahre überlebt oder die Therapie erst später begonnen zu haben. Nach 1996 kamen neue Medikamente, die das aggressive AZT ablösten. Mit Kombinationstherapien stieg die Lebenserwartung sprunghaft an. Wer es bis dahin geschafft hatte, konnte wieder hoffen. Etwa die Hälfte der HIV-Positiven in Deutschland, bestätigt das Robert-Koch-Institut, lebt bereits länger als zehn Jahre mit der Immunschwäche.

Aber für die meisten dieser Langzeitüberlebenden sind die Jahre ein Auf und Ab aus Hoffnung, Erwartung, Enttäuschung und Angst. Auch die Geschichte von Mario Wirz beginnt, wie alle HIV-Geschichten, mit einem Schock: 1985 stürzte ihn der positive Befund in eine Depression.

Ende der Siebzigerjahre war Mario Wirz aus der Enge einer nordhessischen Kleinstadt nach Berlin geflohen, hatte dort die schwule Szene entdeckt, sein Coming-out erlebt und schnell Kontakte zur Literatur- und Kunstszene geknüpft. Mit Anfang zwanzig veröffentlichte er einen ersten Text in einer Anthologie des Verlags Rosa Winkel. Wirz begann eine Schauspielerausbildung, arbeitete im Anschluss am Kieler Landestheater, war dort Autor, Schauspieler und Regisseur. In Kiel lernte er den Mann seines Lebens kennen, André.

Doch 1984 trennten sich die beiden, zumindest vorübergehend. Mario kehrte nach Berlin zurück, stürzte sich ins Nachtleben und suchte die schnellen Abenteuer. Später schrieb er: „Ich betäube mich mit jedem Körper, der sich anbietet. Inzwischen weiß ich, dass die Aids-Schlagzeile keine Lüge ist. Jeden Tag fallen neue Horrormeldungen über mich her, aber nichts weckt mich aus meiner tödlichen Trance. Ich schaue gleichgültig dabei zu, wie ich meinen Verstand verliere. Ich ficke den Tod und lasse mich von ihm ficken.“

Dann der Test, auf dessen Ergebnis er sechs Wochen warten musste. Zeit der Selbstbezichtigungen wie der Selbstbeschwichtigungen, der Verdrängung und Verharmlosung. Aids ist woanders, in New York, San Francisco, Berlin ist Provinz. Plötzlich spürte der 28-Jährige wieder einen unbändigen Lebenswillen, hoffte auf ein gutes Ende. Doch am 20. November 1985 stürzt ihn der positive Befund „in eine lange Nacht“. Und in die Sprachlosigkeit.

Wie viele Infizierte war Wirz zunächst paralysiert vor Angst. Apathie, Depression und Alkoholmissbrauch waren die Folgen. Ein paarmal ging er zu einer Positivengruppe der Aidshilfe und verkroch sich dann wieder in seiner Neuköllner Hinterhofwohnung. Um „auf den Tod zu warten“, wie er sagt. Als schwuler Mann und Autor hatte sich Mario Wirz in Berlin emanzipiert, als HIV-Positiven verschlug es ihn zurück in Furcht und Verklemmtheit. Alte Ängste mit neuen Schrecken, alte Kleinstadtenge, alte Hysterien.

Nur die Arbeit an einem Berliner Kindertheater half dem Autor, ab und zu aus der Wohnzimmerdepression auszubrechen. Er schrieb Kinderstücke und Boulevardkomödien – „Verdrängungsliteratur“ nennt er die Werke heute. Aber sie halfen ihm zu überleben. Noch war er nicht so weit, gleichsam in einem zweiten Outing mit seiner Krankheitsgeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er hatte das Thema noch nicht – oder es ihn.

1989 dann lernte Wirz bei Synchronisationsarbeiten den Aktivisten und Filmemacher Rosa von Praunheim kennen. In einem zwei Jahre dauernden Briefwechsel, den die beiden 1995 unter dem Titel „Folge dem Fieber und tanze“ im Aufbau-Verlag veröffentlichten, überzeugte von Praunheim den Autor, mit seiner Erkrankung an die Öffentlichkeit zu gehen. „Schweigen = Tod“ lautet das Motto der Aktivistengruppe Act up, „Feuer unterm Arsch“ heißt einer der Filme von Rosa von Praunheim. Wirz begriff, dass er sein Thema annehmen musste.

Schreiben wurde für ihn zum Widerstand, das geschriebene Wort erschien ihm als „Triumph des Lebendigen“. Und auch wenn seine Worte, wie er sagt, vielleicht ein bisschen mutiger und selbstbewusster waren als er selbst – der ansonsten eher unpolitische Autor wurde auf seine Weise zum Aktivisten. 1992 veröffentlicht er beim Aufbau-Verlag seinen Band „Es ist spät, ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht“. Das Buch, kürzlich in dritter Auflage verlegt, wurde ein Erfolg, ist in mehrere Sprachen übersetzt.

Das Buch ist eines der wichtigsten deutschen Werke zum Thema HIV und Aids und zugleich, wie der Verlag auf dem Buchcover schrieb, ein „fiebriger Bericht“, ein schonungsloses Stakkato, ein Dokument von Ohnmacht und gierigem Lebenswillen. Diese Erzählung half Wirz, der zu dieser Zeit bereits sieben Jahre mit dem Virus lebte, die Immunschwäche nicht nur als Unglück zu sehen, sondern als Herausforderung, als einen „positiven Imperativ“, um radikaler und authentischer zu leben statt nur „lau und irgendwie“.

Für manche Kritiker, oft übrigens aus dem schwulen Lager, landete Mario mit seiner schonungslosen Offenbarung in der Schublade „Betroffenheitsliteratur“. Vielleicht, weil er über sich selbst schrieb und nicht über einen fiktiven Helden, vielleicht, weil der Ton als selbstmitleidig und larmoyant empfunden und als zu privat abgetan wurde. Wirz ficht das nicht an: Die Grenzen zwischen Wahrem und Erfundenem, sagt er, sind fließend, alles Literarische ist auch Inszeniertes. Und wer als Autor von seinem Thema nicht betroffen sei, könne auch keine Leser treffen.

Wirz trug auf Lesungen aus seinem Buch vor, ging in Schulen, las, diskutierte, stand Rede und Antwort. Längst hatte er damit eine Art zweites Coming-out vollzogen. Er, der sich schon Anfang der Achtziger als Dichter in der überschaubaren Lyrikszene einen Namen gemacht hatte, erzählte dann 1994 ein drittes und bisher letztes Mal von seinem Thema. In seiner „Biographie eines lebendigen Tages“, ebenfalls bei Aufbau erschienen, spürt man, so der Kritiker Markus Sahr, eine „Lust zur Wahrheit über sich selbst, die sich von nichts und niemandem mehr beschwichtigen lässt“. Solange er schreibt, sagt Mario Wirz, habe der Tod keine Macht über ihn.

Das Hoffen, die Angst, trotzige Selbstverständlichkeit und neue Rückschläge – das Auf und Ab erschwert es ihm und allen anderen long term survivors, das Leben linear zu denken und zu planen. Auch er dachte anfangs nur in kleinen Zeitabständen, plante monatsweise und maximal auf ein Jahr im Voraus. Mit zunehmender Stabilität seiner Gesundheit und der erfolgreichen Medikation, die er zwei Jahre nach dem positiven Testergebnis begonnen hatte, ließ auch die Angst nach.

Das mühsam errichtete Vertrauen in den eigenen Körper wurde allerdings enttäuscht, als bei ihm 1994 eine besonders aggressive Form von Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert wurde. Bis heute ist unklar, ob diese Krebsform überhaupt mit seiner Immunschwäche in Verbindung steht. Wirz musste sich mit ohnehin geschwächtem Immunsystem einer Chemotherapie unterziehen – und hatte Glück. Die Therapie schlug an. Wirz verstand durch die Erkrankung, dass Aids vor allem als Metapher für die Sterblichkeit steht, als eine gesteigerte Bewusstheit. Kein HIV-Positiver kann und darf es vergessen: Der Tod ist ständiger Begleiter. Allerdings bleibt die Wahl, ob man sich, wie Wirz es anschaulich formuliert, ins „Theater des Selbstmitleids“ zurückzieht oder ob man die eigene Sterblichkeit annimmt, so gut es eben geht. Vom Allerbesten auszugehen und vor allem das Gute zu sehen ist dabei nicht bloßes positives Denken. Es ist die einzige Form, das Leben trotz aller Einschränkung zu genießen und nicht noch mehr Zeit zu verlieren.

Zumal das tägliche Überleben für ihn wie für alle Positiven auch nach Jahrzehnten mit der Immunschwäche noch immer anstrengend ist: die regelmäßigen Arztbesuche, häufige Schwäche und Mattheit, Durchfallerkrankungen oder Tage, an denen einfach gar nichts geht. Nicht zu vergessen die täglichen Pillen und ihre problematischen Nebenwirkungen. Eine ist die Lypodystrophie, eine Fettumverteilungsstörung, die natürliches Fett zum Beispiel aus den Wangen zieht, unschön auch „Hungergesicht“ genannt, was für viele Positive stigmatisierend und belastend ist. Eine andere häufige Folge ist die sogenannte Fettleber, die entsteht, wenn die Leber als das wichtigste Stoffwechselorgan die tägliche Medikamentendosis nicht mehr ausreichend verarbeiten kann. Mittlerweile gelten Lebererkrankungen als häufigste Todesursache im Zusammenhang mit der Immunschwäche.

Eine Belastung ganz anderer Art stellt die Gesundheitsreform dar, eine Katastrophe für chronisch Kranke wie Mario Wirz. Seine Kasse übernimmt schon seit 2002 nicht länger die Kosten für die Infusionen, die er seit der Krebsdiagnose 1994 alle 14 Tage braucht. Eine dieser Infusionen kostet über 800 Euro. Mit der Unterstützung einiger Freunde, die ihm mit kleinen Daueraufträgen über zehn oder zwanzig Euro aushelfen, kann er sie sich wenigstens ab und zu leisten.

Vieles von dem scheint dennoch zur Routine geworden zu sein, ist Teil des Alltags. Wenn Mario Wirz heute über Ängste spricht, dann ist es eher die Angst um andere. Die Liebe und Sorge um Freunde und vor allem um seinen Partner André, mit dem Mario inzwischen wieder zusammen ist. Schlimmer als der eigene Tod, sagt er, ist es, wenn andere gehen müssen. Wie der Schriftstellerkollege und gute Freund Detlev Meyer, der „einzige Dandy der deutschen Gegenwartsliteratur“, wie die Zeit schrieb. Meyer starb 1999, mit 49. Ihm hat Mario das Gedicht „Freundschaft“ gewidmet. „Nicht länger schaue ich / ungläubig / auf das Einhorn / in meinem Hinterhof / Unbeschwert von Vernunft / staunen wir beide / dass es uns gibt / Ohne Angst vor dem Rätsel / wächst / unsere fabelhafte / Freundschaft“.

Manchmal, sagt Mario Wirz, überfällt ihn ein kindliches Staunen, dass es ihn noch gibt. Inzwischen plant er großzügig für „seine zweite Lebenshälfte“. Das Segeln hat er entdeckt und ist oft mit seinem Mann an der Ostsee. Auf dem Wasser sein, bei Wind und Wetter. Er, der Unsportliche, der Stubenhocker. So gesund wie möglich will er bleiben. Mit dem Rauchen hat er nach einer Lungenentzündung vor einem Jahr aufgehört. Alkohol trinkt er nur noch selten. Er weiß, dass HIV und Aids präsent bleiben, so lange er lebt. Das Prädikat „Aids-Schriftsteller“ ist für ihn als Autor zwar kein Makel, aber er möchte auch andere Wege gehen.

Vielleicht schreibt er als Nächstes ein neues Theaterstück. Oder ein Kinderbuch. Auch mit seinem neuen Lyrikband, dem sechsten, beschreitet der PEN-Preisträger neue Wege. „Sturm vor der Stille“ hat er ihn genannt. Mario Wirz nimmt den Leser mit auf große Fahrt. Reiseziel: unbekannt. „Die Schuhe im Flur / wandern aus / in die Vergangenheit / in die Zukunft / leuchten die Sterne / jetzt und für immer / Hut und Mantel / sind schon unterwegs / am Ende der Welt / am Anfang der Zeit / geht alles / weiter.“

FABIAN KRESS, 38, ist freier Autor in Berlin