„Die Kamera ändert nichts“

DOKUMENTARFILM Frederick Wiseman mag das Ballett, weil es Ideen in Körperbewegungen übersetzt. Ein Gespräch mit dem Dokumentaristen über Tänzer, Fliegen und den neuen Film „La danse – Das Ballett der Pariser Oper“

■ Das Werk: In ihrer Konzentration auf das komplexe Leben in öffentlichen Institutionen ist Fred Wisemans Arbeit allenfalls jener des Franzosen Raymond Depardon vergleichbar: Wisemans Filme sind verdichtete Erzählungen von Gesellschaft, Macht und Alltag auf kommunaler Ebene – Innenansichten der Arbeit, die in Schulen, Zoos, Spitälern und Theatern verrichtet wird, der Abläufe in Polizeistationen, Militärtrainingslagern, Modellagenturen und Klöstern.

■ Der Filmemacher: Wiseman wurde 1930 in Boston geboren und wählte zunächst eine Karriere als Anwalt, ehe er sich 1967 dem Kino zuwandte und mit „Titicut Follies“, einer Reise in die inneren Zonen einer Anstalt für abnorme Rechtsbrecher, einen Skandal provozierte. Am 1. Januar 2011 wird Frederick Wiseman, in aller Agilität und Geistesgegenwart, 81 Jahre alt.

INTERVIEW STEFAN GRISSEMANN

taz: Herr Wiseman, Sie haben sich bereits 1995 in „Ballet“ mit einer Tanzinstitution befasst. Wie stehen Sie persönlich zum Ballett?

Frederick Wiseman: Es ist eine Kunst von großer Schönheit. Ich sehe mir in New York und Paris regelmäßig Ballettaufführungen an. Mich interessiert, wie Ideen allein durch Körperbewegung, ohne Worte ausgedrückt werden können.

Glauben Sie daran, dass es so etwas wie ein Körpergedächtnis gibt?

Auf jeden Fall. Manche Tänzer merken sich äußerst komplizierte Bewegungsfolgen fast mühelos und in enormer Geschwindigkeit. Das ist unfassbar: Ein Choreograf führt eine neue Sequenz vor – und diese Tänzer können sie sofort präzise imitieren!

Ist das nicht unheimlich? Wieso können die das?

Da ist zweifellos viel Technik dabei, die sie eben schon als kleine Kinder zu beherrschen lernten.

Der Umgangston an der Pariser Oper ist ziemlich rüde.

Ballettmeister sind eben harte Lehrer. Sie sind gut, aber gnadenlos. Mich erinnert die in Paris praktizierte Tanzschule an klassische Erziehung: Im 19. Jahrhundert mussten Studenten Latein- und Griechisch-Kurse belegen, mussten Französisch und Deutsch lernen, und man las Philosophie. Heute lernt man, wie man Werbespots fürs Fernsehen dreht. Ballett wird auf ganz bestimmte Weise gelehrt, dabei geben die Ballettmeister auch Traditionen weiter, denn sie sind selbst ehemalige Tänzer. Laurent Hilaire etwa war ein Star seines Metiers, musste aber aufhören, weil er mit 40 die Altersgrenze erreicht hatte.

Das ist ein zentrales Thema Ihres Films: Was stellen Künstler, die sich mit 40 beruflich zurückziehen müssen, mit dem Rest ihres Lebens an?

Einige von ihnen werden Lehrer, die meisten tanzen weiter; das Nederlands Dans Theater hat vor ein paar Jahren eine zweite Compagnie gegründet, in der ältere Tänzerinnen und Tänzer arbeiten. Einige gehen leider mit dauerhaften Verletzungen in Rente, aber viele können weitermachen. Vergessen Sie nicht: Selbst wenn diese Leute mit 40 pensioniert werden, so haben sie doch 34 Jahre lang gearbeitet!

Verbinden Sie mit dem Begriff „fly on the wall“, mit dem Ihr Stil gern beschrieben wird, eigentlich etwas?

Nur Unbehagen. Ich mag den Begriff nicht.

Wieso?

Nun, ich bin zwar kein Experte für Fliegen, aber ich frage mich ernsthaft, wie viele bewusste Entscheidungen eine Fliege zu treffen in der Lage ist. Aber selbst wenn man das Wort metaphorisch einsetzt, stimmt es nicht: Oder rauscht man als Filmemacher an wie eine Fliege, setzt sich und schaut nur vor sich hin, in der vagen Hoffnung, dass irgendetwas passiert und man dabei nicht gesehen wird?

Beginnt das Problem nicht schon bei der Annahme, dass die Präsenz der Kamera die gefilmten Ereignisse nicht beeinflusse?

Meiner Erfahrung nach ändert die Kamera nichts. Sie hat, seit es Dokumentarfilme gibt, eine solche Bandbreite an menschlichem Verhalten aufgezeichnet, dass man sich von der Idee getrost verabschieden kann, dass Bürger vor der Kamera zu risikolosen, durchschnittlichen Akteuren ihrer selbst würden. Allein in meinen Filmen finden Sie Bilder, die von der Würgeattacke eines Polizisten auf eine vermeintliche Prostituierte bis zu den barmherzigen Taten von Ärzten oder Sozialarbeitern reichen. Ich glaube, dass normale Menschen gar nicht die Kapazität besitzen, sich plötzlich in jemand ganz anderen zu verwandeln, nur weil eine Kamera auf sie gerichtet ist. Ich könnte jetzt auch nicht aus dem Stand spielen wie Laurence Olivier.

Aber Sie könnten es versuchen.

Ja, aber man würde es sofort als Lüge erkennen. Wenn ich Ihnen hier die ganze Zeit über erlogenen Unsinn erzählte, gäbe es einen Impuls in Ihrem Kopf, der Sie darauf hinweisen würde, dass Wiseman Sie gerade für dumm verkaufen will. Sollte so etwas vor der Kamera passieren, schaltet man sie eben ab.

Haben Leute bei Dreharbeiten schon versucht, Sie für dumm zu verkaufen?

Das ist sehr selten. Wie es übrigens auch kaum je vorkommt, dass sich Leute nicht filmen lassen wollen.

Das klingt überraschend.

Es ist aber so. Bei mir weigern sich allerhöchstens zwei Menschen pro Film, vor die Kamera zu treten.

Aber Sie müssen doch jeden davon auch dazu bringen, ein Papier zu unterschreiben, das alle Rechte an dem entstehenden Material an Sie überträgt?

Manchmal hol ich mir einfach nur ihr mündliches Einverständnis und zeichne es auf. Das ist genauso legal. In Amerika schützt mich aber ohnehin die Meinungs- und Pressefreiheit. Wenn ich mit einer öffentlichen Institution zu tun habe, mit der Polizei, dem Fürsorgeamt oder dem Jugendgericht, brauche ich nicht einmal das mündliche Einverständnis derer, die in meinen Filmen auftreten. Dahinter steht die demokratische Theorie, dass die Regierung in all ihren Ausformungen transparent zu sein habe.

Man merkt, dass Sie Jurist sind …

Es ist nicht so kompliziert zu verstehen, dass man die Freiheit zu drehen besitzt und die Ergebnisse auch zeigen darf.

Bei Ihrem ersten Film, der lange verbotenen Psychiatrie-Studie „Titicut Follies“, schien das nicht so klar gewesen zu sein.

Diese Arbeit machte mir meine Rechte als Filmemacher tatsächlich deutlicher als alle Vorlesungen, die ich an der juristischen Fakultät besucht hatte.

Mit knapp 160 Minuten Laufzeit gibt sich Fred Wisemans neuer Film vergleichsweise bescheiden; zwischen drei und vier Stunden dauern seine Arbeiten in der Regel, selten unterschreitet er die 180-Minuten-Marke. In „La danse“ durchleuchtet der amerikanische Filmdokumentarist die Ballettabteilung der altehrwürdigen Pariser Oper, verfolgt Probenprozesse, streift durch Büros und Korridore, belauscht die Strategiegespräche und Besetzungsdebatten des Leitungspersonals. Die physischen Leistungen hochtrainierter Tänzerinnen und Tänzer sind naturgemäß ein Zentrum der filmischen Forschungsreise; Wiseman zeigt, wie Choreografien entstehen, konzentriert sich auf das Verhältnis von Kreation und Interpretation, auf den Zusammenhang von Körper und Ästhetik. Die Reise führt von der Chefetage bis zur Wäscherei, von der Tanzlehrkräften bis zu den Bühnentechnikern. Thematisch entspricht „La danse“ dem Geist der Zeit: Wisemans Film ist das perfekte realistische Gegenstück zu Darren Aronofskys demnächst startendem Ballett-Schocker „Black Swan“.

■ „La danse – Das Ballett der Pariser Oper“. Regie: Frederick Wiseman. Dokumentarfilm, Frankreich/USA 2009, 158 Min.

Wie viel Material haben Sie für „La danse“ gedreht?

An die 140 Stunden.

Wie bewahren Sie da den Überblick? Gibt es im Schneideraum nicht immer auch den Punkt, an dem man Orientierung und Kritikfähigkeit einzubüßen droht?

Man muss beim Schneiden extrem geduldig sein – und sehr obsessiv. Denn man ist mit tausend Details konfrontiert und muss dabei die große Form suchen. Ich brauche für die Montage jedes Films ein ganzes Jahr. Ich schneide zunächst monatelang nur einzelne Sequenzen, ehe ich mir zu überlegen beginne, wie sie zusammenhängen könnten. Ich stelle eine erste Rohfassung des Films her, um danach weitere acht Wochen lang die Rhythmen in den einzelnen Szenen und in ihrem Zusammenspiel zu finden. Denn die Bedeutung eines Films ändert sich fundamental, wenn man nur die Reihenfolge der Szenen variiert.

Sie misstrauen Begriffen wie „Direct Cinema“ oder „Cinéma Vérité“. Mögen Sie das neutralere Wort Dokumentarfilm?

Wenn Sie mich fragen, ob ich glaube, Dokumentarfilme zu machen, würde ich antworten, ich mache Filme – einfach movies.

Haben Sie nicht früher einmal sogar „reality fiction“ dazu gesagt?

Das war ein Witz, der mich seit Jahrzehnten verfolgt! Als Truman Capote sein Buch „In Cold Blood“ veröffentlichte, gab er an, ein Stück „non-fiction fiction“ geschrieben zu haben – obwohl er wahrscheinlich fast alles daran erfunden hatte. Ich antwortete darauf mit dem absurden Begriff „reality fiction“, der offensichtlich ein Widerspruch in sich ist. Andererseits ist da auch etwas dran, das meine Filme beschreibt: Denn ich zeichne uninszenierte Ereignisse auf und organisiere sie im Rahmen einer fiktionalen Struktur.

Also stellen Ihre Filme nun „die Wirklichkeit“ dar, oder sind sie doch bloß eine Art realistischer Fiktion?

Es gibt in meinen Filmen weder Erklärungen noch Kommentare. Ich zwinge den Betrachter also, selbst zu entscheiden, was die Bilder und Töne, die er sieht, bedeuten oder darstellen könnten. Er wird nun seine Fantasie spielen lassen und Persönliches auf meine filmischen Angebote projizieren – oder er hält sich an das Evidente, an die Beweiskraft dessen, was er sieht und hört. Ich betrachte meine Filme als vielfältig lesbar, als Gedichte: Jeder muss selbst herausfinden, was er aus der Information, die ich ihm gebe, machen will.