Am Rande der Peripherie

Vor 500 Jahren baute Kopernikus in Frombork das Universum um. Und heute bringt sein Name Touristen an diese EU-Außengrenze. Das Dorf, traumverloren wie die Landstriche im Osten Polens, sehnt sich heute nach Umbauten anderer Art

von RICHARD FRAUNBERGER

Es gibt Orte, die Szczuczyn oder Rzeszów heißen. Sie sind mit dem Bus oder Zug mühelos zu erreichen. Es gibt nur ein Problem. Man weiß nicht, wie man es dem polnischen Fahrkartenverkäufer sagen soll: Stschuschin, Rseschoff? Anders dagegen Frombork. Anstandslos erhält man eine Fahrkarte und steigt in den Bus. Auf schmalen Landstraßen geht es von Danzig über sanfte Hügel, entlang schnurgerader Baumreihen, vorbei an Strommasten und Gehöften. Rumpelnd durchquert der Bus kleine Dörfer. Mütterchen sitzen an Hausmauern, verkaufen Blumensträuße und Gemüse, Pferde grasen, über Äcker flattern aufgescheuchte Vögel, und wenn sich der Himmel in einem See widerspiegelt, der in Wirklichkeit das Frische Haff ist, sind es nur wenige Kilometer bis nach Frombork.

Das 2.700-Einwohner-Dorf wartet mit keiner historischen Altstadt auf. Es gibt keine verwinkelten Gassen und keine mittelalterliche Ritterburg. Die Welt besteht hier in einfacher Ausführung: eine Hauptstraße, ein Hafen, ein paar Geschäfte, eine Sehenswürdigkeit. Nur zwölf Kilometer weiter verläuft die neue EU-Außengrenze. Hinter Stacheldraht beginnt die russische Exklave Kaliningrad, ein Territorium, das man nicht so ohne weiteres betreten kann, um mal schnell in das benachbarte Litauen zu gelangen. Von der Landwirtschaft leben Fromborks Bewohner und vom Fischfang. Beides läuft schlecht. Fromborks Hauptattraktion und ganzer Stolz ist ein Mann, dessen Name Hotel- und Straßenschilder in ganz Polen ziert. Er ist die bescheidene Einnahmequelle des Dorfes, das, wenn es in den Vereinigten Staaten läge, längst einen Erlebnispark errichtet und einen Leiter für Merchandising ernannt hätte.

Vor einem halben Jahrtausend wurde hier das Universum umgebaut: Nikolaus Kopernikus brachte die Sonne zum Stehen, rückte sie ins Zentrum und ließ die Erde, wie einen Kreisel, um sich selbst und um die Sonne drehen. Nicht mehr Augenschein bestimmte die Struktur des Universums, sondern Mathematik. 1532 vollendete der Domherr zu Frombork sein Lebenswerk, jene mathematischen Grundlagen, die Jahre später mit Kepler und Galilei den Gegensatz zwischen Kirche und Wissenschaft verschärften. Die Restrukturierung des Universums blieb vorerst reine Theorie, belegen konnte Kopernikus nichts. Die Beschäftigung mit der Astronomie gehörte nicht zu den beruflichen Aufgaben des Domherrn. Er war Rechtsgelehrter, Mediziner und Kanoniker, hatte in Krakau, Bologna und Padua studiert. Er schrieb Abhandlungen über Geld und Kalenderreformen, stellte auf Bitten von Patienten Mixturen gegen Gallenkolik und graue Haare zusammen. Dass Kopernikus aus Angst vor der katholischen Kirche seine Theorie nicht zu veröffentlichen wagte, ist eine irrige Legende. Rom forderte ihn zur Publizierung seiner Hypothese auf, und erst nach seinem Tod, 1543, als durch Galileo aus ihr eine absolute Wahrheit zu werden drohte, setzte die Kirche sein Werk auf den Index.

In dem Dorf, das früher Frauenburg hieß und mal zum Deutschen Orden, mal zur polnischen Krone und schließlich zu Ostpreußen gehörte, wurden Häuser erbaut und niedergebrannt, Menschen geboren und verjagt. Goten, Preußen, Polen, Schweden, Franzosen, Deutsche, Russen, alle kamen, die meisten gingen. Ebenso die Pest und ganze Heere. Geblieben sind das Meer und der Himmel – und Berge voller Erinnerungen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Dorf zerstört, beinahe ausradiert, wie eine nicht aufgegangene Rechnung. Fromborks Kathedrale und der Bischofspalast wurden mit bewundernswerter Akribie wieder aufgebaut.

Der Lärm weltpolitischer Ereignisse ist seit langem verklungen. Über dem spiegelglatten Haff türmen sich Wolken zu Kolossen auf. Kornfelder berühren den offenen Himmel. Im Hafen sitzt die Dorfjugend mit Handys auf Bänken. Eine Gans watschelt durch die Gasse. Das Ermland ist ärmliche Provinz, abgeschnitten durch die russische Exklave, abgehängt von der vibrierenden Wirtschaft Polens. Es ist, als habe der landesweite Umbruch die Wiesen und Wälder Ermlands nie erreicht.

Neben dem Kathedralhügel, der das Dorf gebieterisch überragt, steht ein Haus, in dem Gäste zuweilen ihre eigenen Kellner sind. Das Restaurant und Hotel, das dem polnischen Fremdenverkehrsamt PTTK angehört, liegt gut versteckt hinter Büschen. Es hat den sachlichen Charme einer sozialistischen Kleindorfkneipe. Auf einem Holzregal hinter der Theke stehen handgeschriebene Preisschilder vor aufgereihten Zigarettenschachteln, Bierflaschen und Keksen. Eine Bedienung ist nicht zu sehen. Man setzt sich in den Biergarten unter einen Sonnenschirm und wartet. Es dauert, bis eine Frau in weißer Schürze die Speisekarte reicht und wieder verschwindet. Entschließt man sich für ein Kotlet schabowy und ein Bier, steht man auf und sucht die Dame mit der weißen Schürze. Magda, so heißt sie, ist dann entweder in der Küche oder döst neben der Theke, als wolle sie unter keinen Umständen ihre Mitmenschen belästigen. Manchmal setzt sie sich auch an den Tisch und erzählt von sich und den anderen Frauen in der Küche: wie gerne sie das Restaurant und Hotel übernehmen und die antiquierte Einrichtung ersetzen würden, aber das PTTK nicht verkaufen und die Bank keinen Kredit gewähren will. Man verstummt und gibt sich der Vorstellung hin, wie das eigene Leben verlaufen wäre, wenn man nur einen Wurf weiter, vielleicht in Szczuczyn oder Rzeszów, geboren wäre.