Hannas Stern

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Eine Begegnung mit Hanna Poddig – der jungen Frau, die immer wieder geht

■ ist freie Autorin und lebt in Berlin. Ende letzten Jahres erschien ihr neuestes Buch, „Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich“, im Propyläen-Verlag.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, sagte eine junge Frau kurz vor Weihnachten zu mir und sah aus einer Kneipe am Neuköllner Maybachufer hinaus auf die Vorbeieilenden. In deren Gesichtern lag die Panik, noch nicht für jeden das richtige Geschenk zu haben. Ihr Lächeln verriet, dass sie sich nicht zu den Fehlalarmierten, Falschgelebten zählte. Etwa so muss Sokrates auf den Markt von Athen geblickt haben: Wie viele Dinge sehe ich, die ich nicht brauche! Und nein, sie schenke nichts. Um nicht falsch verstanden zu werden: Sie schenke sehr gern. Nur eben nicht ferngesteuert, zu diesen vordefinierten Anlässen. Aber gerade dieser Anlass – wer bringt es denn fertig, sich ihm wirklich entziehen? Ich!, sagte ihr Lächeln.

Das Retortenmädchen

Jeder, wenn er nur will. Vor Schreck habe ich vergessen, sie zu fragen, von wem sie das schöne absolutistische Zitat hat. Von Adorno selbst oder irgendwo gehört? Wenn man noch jung genug ist, klingt in solchen Aussprüchen gleich die halbe Lösung mit. Später wird daraus eine Weisheit mehr unter denen, die traurig machen. Sie ist noch jung genug, um diesen Satz wie einen Besitz zu wahren im kleinen Katechismus der Weltveränderung. Aber sie sprach ihn – und das war das Entscheidende – nicht fundamentalistisch, nicht so, dass man den Folgesatz schon zu hören meinte: Und wahrlich, ich sage euch, was wahr und was falsch ist. Was wäre der Welt erspart geblieben, hätten Menschen mit ähnlich unbedingten, absoluten Wahrnehmungen ähnlich bedingt, relativ geschlussfolgert.

Natürlich, solche Mädchen begegnen einem nicht einfach so. Sie sind immer schon anderen begegnet. Es war ein Interview, journalistischer Alltag und dabei durchaus unalltäglich. Sie heißt Hanna Poddig und ist diejenige, die in den Fernsehtalkshows seit über einem Jahr als Stimme aus dem unverfälschten, zurichtungsresistenten, konzessionslosen Leben auftritt. Nachweihnachtlich gesprochen: Da ist eine – fünfundzwanzig Jahre alt –, die nur ihrem eigenen Stern folgt und vom Überfluss der Überflussgesellschaft lebt. In den Containern der Supermärkte findet sie ihre Mahlzeiten – denn weggeworfen wird nicht nur, was schlecht ist, sondern alles, was nicht der Norm entspricht wie Schokoladenweihnachtsmänner, wenn Weihnachten vorbei ist, falschrum etikettierte Marmeladengläser und generell alles, was vom eigenen Endverbrauchsdatum bedroht ist.

Zu Hause ist sie dort, wo ihr Rucksack steht – wozu hat man Freunde, Gleichgesinnte, Gefährten? Mitunter schläft sie gleich neben den Genmaisfeldern oder den Bäumen, die sie besetzt. Sie studiert nicht – denn sie misstraut den Disziplinen, deren Inhalte immer schon die Bedürfnisse der Gesellschaft widerspiegeln. Sie hat keine Arbeit – denn wie fern ist der Mensch oft sich selbst, gerade wenn er arbeitet. Sie kennt auch das alte Zauberwort für diesen Sachverhalt: Entfremdung. Natürlich bezieht Hanna Poddig auch nicht Hartz IV, denn das hieße, den traurigsten Platz in dieser Gesellschaft einzunehmen: ganz und gar verwaltetes Leben zu sein. Und mit Geld, diesem großen Lebenszerstörer, will sie anders als wir Normallebendigen möglichst wenig zu tun haben.

Wenn das Problem bleibt

Natürlich, ich hätte sie längst unterbrechen können. Wäre es nach ihr gegangen, wir wären wohl im ewigen Halbdämmer des Bewusstseins in der Urhöhle sitzen geblieben. Ist sie nicht eine Widergängerin der ältesten Disziplin, der Zivilisationskritik? Will da eine nicht die ganze Menschwerdung widerrufen? Dabei musste sie erst stattfinden, um eine Existenzform wie Hanna Poddig erst hervorzubringen. Also ein circulus vitiosus, ein unzulässiger Schluss. Aber so denken nur die Logiker, die nicht wissen, dass durch den Nachweis eines Fehlers nie das Problem verschwindet. Warum sie also unterbrechen?

Nein, Hanna Poddig hat keinen Beruf, sie hat eine Aufgabe. „Ich bin Sand im Getriebe“, sagt sie. Und ihre Daseinsform sei die Aktion. Diesmal ließ sie ihr Gespür für noch nicht verbrauchte Worte, solche mit Restutopie, doch im Stich. Das Wort „Aktionismus“ klingt ihr noch oder schon wieder ganz unverdächtig. Natürlich, ihr Daseinsideal ist nicht ganz neu. Man nennt das auch Aussteigerleben. Aber nie war das so schwer wie heute. Als noch ganze Generationen daran wenn schon nicht teil-, so doch anteilnahmen – kein Problem. Aber jetzt, da so viele gleichsam ihre ganze Jugend überspringen, diese Hoch-Zeit des Nichteinverstandenseins, und gleich BWL studieren?

Vorstand von Robin Wood

Ihr Lächeln verriet, dass sie sich nicht zu den Fehlalarmierten zählte. So muss Sokrates auf den Markt geblickt haben

Entfremdetes Dasein. Es gibt kein wahres Leben im falschen. Man darf heute niemandem mehr so leicht raten, sich mit solchen Wortgruppen einzulassen, nicht mal den eigenen Kindern. Sie führen ins gesellschaftliche Abseits. So zu leben wie sie, braucht Mut. Sie ist eine Prophetin der Unmittelbarkeit. Ihre legitimen Vorfahren heißen Jean-Jacques Rousseau oder Max Stirner. Sie braucht sich nicht widerlegen zu lassen.

Zwei Jahre lang war sie im Vorstand von Robin Wood. Und dann ist sie gegangen. Wegen des Tonfalls der Spendenaufrufe. „Spenden Sie sofort und genau für uns?“ Ungefähr so. Sie wollte das anders formulieren, weniger wahrheitsbesitzertümlich. „Wahrscheinlich hätte das weniger Geld gebracht“, weiß sie, und trotzdem, sie ging. Es ist diese Widerstandskraft, die sie so glaubhaft macht. Die Mehrheitslogik der ewigen Minderheiten funktioniert anders: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das wusste Jesus, das wussten die Kommunisten. Das wissen alle, die es sich nicht einfach machen wollen, nur um es sich am Ende doch viel zu einfach zu machen.

Sie ist eine, die immer wieder geht. Das Camus-Jahr ist vorbei, aber nicht für sie: Sie führt ein Leben in der Revolte. Und ihre alte, wiederentdeckte Weisheit lautet: Die Revolte darf sich nicht substanzialisieren. Zivilisation heißt, sich vertreten lassen zu können. Vielleicht ist das die letzte Pointe der arbeitsteiligen Gesellschaft: Auch das richtige Leben, oder vielmehr das in mancher Hinsicht richtigere Leben, wird stellvertretend gelebt.