Ein ewiges Umschreiben und Sinnstiften

GESCHICHTE Materialschlacht eigener Art: Dokumentartheater-Guru Hans-Werner Kroesinger präsentiert im HAU sein Projekt zum Weltkriegsjahrestag. Es heißt „Schlachtfeld Erinnerung 1914/2014“ und dreht sich um Sarajevo

Was bleibt? Die Schönheit von Jandls Gedicht „schtzngrmm“: „tzngrmm / t-t-t-t-t-t-t-t-t-t / scht scht scht …“

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Es war heiß, schwül und voll im kleinen HAU3. Es gab zwar Fächer und Wasser umsonst, aber die knapp zwei Stunden Premiere wurden trotzdem zur Zumutung. Was sie wohl auch ohne Hitze gewesen wären: eine Provokation der Aufnahmefähigkeit, für Performer und Publikum. Da prasselten Jahreszahlen, Texte, Bilder, Sprachen auf einen nieder, ohne Pause, ohne erkennbares Ordnungsprinzip. Fundstücke, Bruchstücke, Ausschnitte, Zitatfetzen aus 150 Jahren – eine auf die Bühne gebrachte Kroesinger-as-can-be-Materialschlacht, die passenderweise „Schlachtfeld Erinnerung 1914/2014“ im Titel führt.

Das Stück, eher vielleicht: die Versuchsanordnung, ist das Endergebnis eines seit Monaten laufenden Mehrstationenprojekts von Dokumentartheater-Guru Hans-Werner Kroesinger. Das vom Goethe-Institut anlässlich des Weltkriegsjahrestags angestoßene Projekt gab Kroesinger und der Dramaturgin Regine Dura die Möglichkeit, der Frage „Wie wird der Erste Weltkrieg erinnert?“ in drei Städten Südosteuropas nachzugehen. Recherchephasen, Vorort-Workshops und zu Werkstattaufführungen geronnene Zwischenergebnisse hat es zwischen März und Mai dieses Jahres schon in Belgrad, Istanbul und Sarajevo gegeben. Die Berliner Inszenierung stellt jetzt den Schlussakkord dar, das Amalgam aus Materialsammelsurium und der Zusammenarbeit mit vier Performern aus Bosnien, Serbien, Österreich und Deutschland.

Kroesinger und Dura haben ihr Erinnerungsschlachtfeld einen „multiplen Perspektivenwechsel“ genannt. Was nicht unzutreffend ist. Dass Geschichte ein ewig währender Prozess des Um- und Neuschreibens, des Andersbewertens, -gewichtens und -sinnstiftens ist, dass sie immer anders aussieht, wenn man von einem anderen Ort auf sie schaut: Das ist die – ja mittlerweile zum Historiker-Common-Sense gehörende – Arbeitshypothese dieser Collage. Ständig durch die Jahrzehnte und das sperrige Material hüpfend, graben sich die vier so bewunderungswürdigen wie bemitleidenswerten Performer Benjamin Bajramovic, Damjan Kecojevic, Lajos Talamonti und Armin Wieser durch ihre Textberge: auf Englisch, Deutsch und Bosnisch beziehungsweise Serbokroatisch, teilweise gleichzeitig zweisprachig deklamierend, dann wieder im Frontalunterrichtsstil vortragend oder kurze, fast komödiantisch inspirierte Szenen spielend. Alle Texte aber sind Found Footage aus Reiseführern, Schulbüchern, Briefen, Chroniken, Zeitungen, Lexika, Soldatenhandbüchern.

Das Vorgetragene kreist in weiten, satellitenhaften Bögen vor allem um die Figur des Attentäters Gavrilo Princip, der 1914 in Sarajevo den k.u.k. Thronfolger Franz Ferdinand erschoss und damit als Auslöser des Kriegs gilt. Des Weiteren kommen vor: andere bosnisch-serbische Freiheitskämpfer resp. Volkshelden resp. Terroristen. Die immer wieder neu formulierten Gedenktafeln am Attentatsort, das Konfliktpotenzial des serbischen Drina-Marschs, die vielfältigen Eroberungen Sarajevos – durch die Osmanen, die Österreicher, die Nazis. Die Schlacht von Gallipoli etc. Auf der mit alten Koffern, einem Stehpult, Tischen, Lampen, einem Filmprojektor und Büchern nüchtern schulstubenhaft vollgestellten Bühne legen die Performer quer durch Kroesingers so undurchdringlich gewirkten Irrgarten der Erinnerung einen auswendig gelernten Memoriermarathon hin.

Richtig aufgehen tut das Ganze nicht. Es geht so viel um das Davor und das Danach, dass der Erste Weltkrieg selbst nur als Phantom in den Blick gerät. Offenbar ist Kroesinger irgendwie in Sarajevo hängen geblieben, wobei er selbst unschlüssig zu sein scheint, ob er jetzt ausschließlich darauf scharfstellen darf. Die Kriterien für seine Materialauswahl zumindest bleiben völlig intransparent, was ihn plötzlich als unangenehm allgewaltigen Auteur eines der politischen Ideologie natürlich schön unverdächtigen Mash-up-Zirkus erscheinen lässt. Und was nach all dem Reiseaufwand und dem in einer Begleitschau von Regine Dura ausgestellten Recherchefuror etwas wenig ist.

Man nimmt mit nach Hause: einen brummenden Schädel. Die eine oder andere historische Anekdote, die sich vielleicht mal für pseudogebildeten Partytalk eignet. Und die Schönheit des Jandl-Gedichts „schtzngrmm“, das ganz zum Schluss den Krieg heraufbeschwört und die Schüsse knallen lässt: „tzngrmm / t-t-t-t-t-t-t-t-t-t / scht scht scht …“ Die drei serbokroatischen Wörter für „Blut“, „Krieg“, „Tod“ werden noch drangehängt, sind aber für ein deutschsprachiges Ohr eins mit dem onomatopoetischen Schützengrabenlärm davor.

■ Nächste Aufführungen: 13. bis 15. 6., 18. bis 21. 6.