Die Überflüssigen

Streicheleinheiten für das linke Gewissen: wie den tragikomischen Dramen des russischen Dichters Anton Tschechow durch die Sinn- und Arbeitskrisen der Gegenwart aktuelle Bedeutung zuwächst

VON AURELIANA SORRENTO

„Was ist los mit mir?“, fragt Iwanow seinen Freund Pawel Lebedew. Perplex ist er, ratlos bis zur Verzweiflung. Iwanow, einer der vielen bankrotten Gutsherren, die Tschechows Dramen bevölkern, hat gerade erkannt, dass er ein überflüssiger Mensch geworden ist. Überflüssig – ein Prädikat, das ins Mark trifft. Der leidenschaftliche, risikofreudige, freimütige Heißsporn, der er war, hat sich als Blindgänger erwiesen. Jetzt fühlt er, außer Müdigkeit, nichts. „Ich habe mir eine Last auf den Rücken geladen, aber der Rücken hat es nicht getragen“, haucht Samuel Finzis Iwanow über die Planken der Berliner Volksbühne.

Als Dimiter Gottscheff im vergangenen März Tschechows Stück aus dem Jahre 1887 am Rosa-Luxemburg-Platz zur Aufführung brachte, konnte man in dem Titelhelden noch den Einzelmenschen sehen: einen hochmütigen Überflieger, der vor lauter Hybris zu Fall kommt, sich aus Schwäche im Selbstmitleid suhlt und seine Allernächsten in den Abgrund mitreißt. Ein Egozentriker, quengelig und todgeweiht. Und weil Hauptdarsteller Samuel Finzi all seine Wendigkeit in die Waagschale warf, um hinter dem Schwächling den Selbstgerechten zu entlarven, fiel es dem Zuschauer schwer, der Figur Mitgefühl oder Verständnis angedeihen zu lassen.

Anderthalb Jahre später erscheint Tschechows Nicht-Held mehr als verständlich. Er wirkt wie die Personifizierung jener 6,5 Millionen, die nach der jüngsten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum sogenannten abgehängten Prekariat gehören. Wie er unwillig, träge zur Vorderbühne schlappt, die Schultern hängen lässt, in seinem allzu breiten Sakko rumhampelt und mit den Fingern in den Hosentaschen nestelt – ähnelt dieser Iwanow nicht jener Chimäre des scheinbar antriebslosen Hartz-IV-Empfängers, dessen Gewohnheiten, Sitten und Gemütsverfassung wochenlang Spalten und Sendeflächen gefüllt haben? Der, überflüssig geworden, sich, so heißt es, aufgegeben hat? Mag der Unterschied zwischen einem verarmten Großgrundbesitzer und einem arbeitslosen Arbeitnehmer noch so groß sein, für den Menschen selbst kommt es aufs Gefühl an: jenes, abgestiegen, abgestoßen, hinausgeworfen zu sein aus dem gesellschaftlichen Leben.

Sicher: gespielt, immer wieder gerne, wird der Dramatiker Anton Tschechow wegen des Menschlich-Allzumenschlichen, das er aus seinen Figuren mit ein paar Federstrichen herausstülpt. Wegen des ihm eigenen Humors, vermengt mit Trauer. Wegen der Schwingungen zwischen den Zeilen, die aus Weggelassenem Hauptsätze machen. Auch wegen dem, was Nabokov das „Dämmerlicht“ nannte, das „er über alle seine Wörter ausgießt“, jener „Nuancierung von Grau, die zwischen der Farbe eines alten Zaunes und der einer niedrig hängenden Wolke liegt“.

Aber gerade jetzt kann man nicht umhin, in Tschechows Gescheiterten aus dem 19. Jahrhundert die Gesellschaftsverlierer von heute zu erkennen. Was auch erklärt, warum sich Alt- und Jungregisseure seit anderthalb Jahren darauf verständigt zu haben scheinen, eine Art inoffizielles, bundesweites Tschechow-Festival zu veranstalten.

„Sagen Sie, was sollen wir tun?“, fragt Dagmar Manzel alias Ljubow Andrejewna Ranewskaja am Deutschen Theater Berlin. Dort, von der Volksbühne ein paar Straßen entfernt, wird der „Kirschgarten“ gegeben: Anton Tschechows letztes Schauspiel, sein Testament ans Theater sozusagen. Regie führte Barbara Frey, die reichlich Altstaub über Figuren, Vorgänge und Requisiten vergossen hat. Nicht mal ein Nachtwandler käme vorerst auf die Idee, das Bühnenpersonal möge mit der Gegenwart auch noch so lose Beziehungen unterhalten.

Aber es gibt den Text und darin einen geschäftstüchtigen Aufsteiger, dessen Vater und Vorväter noch als Leibeigene geschuftet haben; indessen haben sich die Zeiten so gewandelt, dass dieser Lopachin weit und breit der Einzige ist, der Geld hat. Um ihn herum kalbern Landadlige am Bettelstab, tun so, als wären sie noch Herrenschicht. Im Zentrum des Geschehens: die liebenswürdige Gutsherrin Ljubow Andrejewna, welche tatenlos zusieht, wie ihr Landgut heruntergewirtschaftet, der Kirschgarten versteigert wird. Diese Tschechow’sche Grand Dame erfährt in Gestalt Dagmar Manzels zwar eine gewisse Erdung, ist aber weder vom Glauben abzubringen, nichts Böses könne ihr geschehen, noch vom lässigen Hergeben der Münzen, die sie vorläufig in der Tasche hat. Selbsttäuschung, Realitätsverlust, stures Beharren auf dem Gewesenen – kennen wir das irgendwoher? Ob sich Angela Merkel ihr fideles Lächeln bei der Ranewskaja abgeguckt hat?

Anton Tschechow, 1860 geboren, Nachfahre eines Leibeigenen, diagnostizierte den Untergang einer Klasse, deren ökonomische Existenz jahrhundertelang auf Landbesitz und Leibeigenschaft gründete. Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland 1861 verloren die Großgrundbesitzer ihre Haupteinnahmequelle; bald büßten sie auch ihre gesellschaftliche Führungsrolle ein. Viele von ihnen gingen in Luftschlössern voller Schulden zugrunde, noch bevor die Revolution ihre ganze Welt hinwegfegte. An ihre Stelle traten zunächst handelseifrige, neureiche Bauern, die dem Land ein kapitalistisches Intermezzo bescherten, dann kam die Arbeiterklasse. 1905, mit Streiks, die als Generalprobe der Oktoberrevolution in die Annalen eingegangen sind, stieg diese zum Subjekt der Geschichte auf. Tschechows Dramen, zwischen 1887 und 1904 entstanden, sind Dokumente einer historischen Übergangsphase.

Es gibt Gründe, anzunehmen, dass wir gerade eine ähnliche erleben. Weil die Globalisierung Arbeitsplätze in unseren Längengraden unprofitabel, daher entbehrlich macht, stehen wir an der Schwelle von einer Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft „ohne“ Arbeit. Diesen Wandel anzuerkennen hieße, ihn zu steuern – dazu fühlt sich derzeit jedoch niemand berufen. Die politische Führung erwägt unentwegt Korrekturen des Unzeitgemäßen. Die Bürger schauen zu und ächzen der Vergangenheit nach. Die Intellektuellen üben sich in der Deklination des Wortes „Reform“. Kurz: Die alte Welt geht baden, trotzdem geben wir sie nicht auf. Nicht anders als Tschechows Gutsherren.

Anders als zu Tschechows Zeiten leuchtet aber heute kein Erlösungsversprechen mehr am Horizont. Wurde die Revolution um 1900 sogar vom wertkonservativen, vom Idealismus geprägten Teil der russischen Intelligenzija als reinigendes, welterneuerndes Gewitter herbeigesehnt, wagt heute keiner mehr eine Vision. Utopien? Gesellschaftsentwürfe? Seit dem Fall der Mauer und der „Realsozialismen“ gelten sie allesamt als totalitarismusverdächtig.

Nur ins Theater darf man sie noch reinschmuggeln – weil sie da niemand ernst nehmen muss. Zumal nicht, wenn es Tschechow’sche Gestalten sind, die sie auftischen. Die Komik und Überdrehtheit, die der russische Dramatiker, ein skeptischer Optimist, seinen Utopisten stets verpasste, macht selbst die weltfernsten Gedankenflüge erträglich. Ein Umstand, den sich Falk Richter zunutze macht. Der Autor und Regisseur (Jahrgang 1969) scheint die Rolle des Paradiesvogels eingenommen zu haben, der sich seinen Traum vom Garten Eden partout nicht nehmen lassen will. An der Schaubühne in Berlin hat er zum Saisonauftakt die „Drei Schwestern“ in einer eigenen Bearbeitung inszeniert. „Weil da ein Zustand beschrieben wird, der genau auf unsere heutige Situation in Deutschland passt“, sagt er. Das heißt: Stillstand. Angst. Depression. Erstarrung. Dagegen soll Zuversicht helfen. „In zwei-, dreihundert Jahren“, verkündet Leutnant Werschinin auf Richters Bühne, „wird das Leben auf Erden paradiesisch sein.“ Statt Krieg, Terror und Verblödung würden einst Frieden und Kultur herrschen; eine kultivierte Menschheit, des Mordens und Schacherns überdrüssig, werde einträchtig an einem Weltstaat bauen. Denn von irgendwas muss der Mensch wohl träumen, solange er kein besseres Leben hat. Was ungefähr auch bei Tschechow zu lesen ist.

Nur den Glauben an den Wert der Arbeit hat Richter offenbar verloren. Im Hier und Jetzt der Inszenierung diskutieren die Akteure über Arbeit, die glücklich macht oder unglücklich, angeblich frei und vor allem müde. Auch jene, die man nicht hat, weshalb man aufs Altenteil geschoben wird. Zum Schluss dient Tschechows Text dem Zeitgenossen nur noch als Vehikel, um der alten Dienstmagd Anfisa seine aktuelle Utopie in den Mund zu dichten. Altersbedingt arbeitsunfähig geworden, lebt sie nun von staatlichen Zuschüssen und freut sich darüber, zum Lesen und Schreiben endlich Zeit zu haben. Ein eindeutig politischer Anwurf: Bürgergeld für alle, soll das bedeuten, die keine sinnvolle und sinnstiftende Arbeit finden. Das ist Richters Vorschlag zur Lösung unserer Übergangsprobleme. Schiere Utopie freilich – eine fürs 21. Jahrhundert, frei nach Anton Tschechow.

Der Dichter starb in Badenweiler, Deutschland, am 2. Juli 1904. In diesem Land lässt man ihn aber nicht ruhen. Er ist offenbar noch nicht überflüssig geworden.