die taz vor fünf jahren: nach dem sieg in afghanistan überlassen die usa den nahost-konflikt sich selbst
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Die Niederlage der Taliban lässt sich nicht bedauern. Trotzdem löst der Sieg der USA auch Befürchtungen aus; besonders in Nahost. Denn dieser Sieg war zu einfach. Afghanistan wurde erobert, ohne das Leben eines einzigen amerikanischen Soldaten zu gefährden. Die USA sind nun die einzige Supermacht der Welt. Wie schon Lord Acton sagte: „Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.“

Davon haben uns die letzten Wochen bereits einen Vorgeschmack gegeben: Solange sich die USA auf den „Anti-Terror-Krieg“ vorbereiteten, zeigten sie eine beachtliche Umsicht und Selbstbeschränkung. Dazu gehörte auch die Allianz mit den arabischen Staaten. Aber sobald US-Präsident Bush erkannte, dass er auch ohne Hilfe siegen kann, verzichtete er auf weitere Rücksichten. Die arabischen „Allianz“-Partner werden von den USA wieder nach dem alten Muster behandelt: „Ahmed, bring den Kaffee.“ Die Amerikaner diskutieren untereinander, frei und offen, was das nächste Ziel sein sollte – den Irak auseinandernehmen oder alte Rechnungen mit Somalia begleichen. Und die Araber? Wer fragt sie?

Diese neue Wirklichkeit zeigt sich am offensichtlichsten und gefährlichsten beim Palästinaproblem. Unmittelbar nach dem 11. September wussten die amerikanischen Experten bestens, dass Scharons Übergriffe auf die autonomen Gebiete gestoppt werden müssen. Bush sprach von der „Vision“ eines palästinensischen Staates, Colin Powell arbeitete an einer neuen Friedensinitiative, und ein armer, ehemaliger Marinegeneral wurde nach Jerusalem als Vermittler entsandt. Für kurze Zeit sah es so aus, als würde die USA ihre Macht einsetzen, um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beenden. Denn welchen Sinn könnte es haben, einen Bin Laden zu töten, wenn gleichzeitig zehn neue produziert werden?

All diese weisen Überlegungen verdunsteten im Wind, als die USA ihren einfachen Sieg verbuchten. Über Nacht wurde Amerika wieder zum großzügigen Paten des israelischen Rechtsaußen-Militär-Flügels. Die israelische Lobby diktiert erneut die Politik in Washington. Präsident Bush hat Scharon freie Hand gegeben, die palästinensische Führung zu liquidieren.

Ein einfacher Sieg kann ein Desaster für den Sieger sein – mehr noch als eine Niederlage. Die Niederlage in Vietnam hatte einen ernüchternden Effekt auf Amerika und hinterließ eine Stimmung der Reflexion. Unser einfacher Sieg im Sechs-Tage-Krieg hingegen war für uns ein Desaster. Die Maxime des wei- sen Lords könnte ergänzt werden wie folgt: „Siege korrumpieren, und einfache Siege korrumpieren besonders.“

Uri Avnery in der taz vom 21. 12. 2001