Was uns wohltut, ist gut

SEITENWECHSEL Wie Krankheiten entstehen, wissen Mediziner sehr gut. Doch wie entsteht Gesundheit? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Salutogenese

■ Anna Paul/Silke Lange: Lebensstilmedizin für die ärztliche Praxis. KVC Verlag – Karl und Veronica Carstens-Stiftung, Essen 2013.

www.salutogenese-dachverband.de

www.salutogenes-zentrum.de

www.havelhoehe.de

www.kliniken-essen-mitte.de/naturheilkunde (vm)

VON VERENA MÖRATH

„Wir sind alle sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund“, bilanzierte der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky schon in den 1970er Jahren. Er widmete sich als erster Wissenschaftler der Erforschung der Gesundheit und suchte Antworten auf solch simpel klingenden Fragen: Unter welchen Bedingungen bleibt der Mensch gesund? Welche Ressourcen helfen ihm, trotz extremster Belastungen, Stress und widrigen Umständen gesund zu bleiben, warum werden andere davon krank? Wie schaffen es Menschen, sich von Erkrankungen wieder zu erholen? Er suchte nach dem Ursprung von Gesundheit und setzte mit seinem Modell der Salutogenese völlig neue Maßstäbe in der Medizin, die sich bis dahin in erster Linie mit der Pathogenese, der Entstehung und Entwicklung von Krankheit beschäftigte.

Das Modell der Salutogenese geht von einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum aus: Der Mensch tendiert im Laufe seines Lebens manchmal mehr zum Gesundheitspol, zeitweilig zum Krankheitspol hin. Gesundheit stellt sich nicht von selbst ein, sondern ist stets mehr oder minder gefährdet, aber niemand ist immer gesund oder nur krank. Antonovsky identifizierte verschiedene Faktoren, die es den Menschen erleichtern, gesund zu bleiben oder sich von einer Krankheit zu regenerieren. Er prägte den zentralen Begriff der Salutogenese: das „Kohärenzgefühl“. Es setzt sich zusammen aus dem Gefühl der Verstehbarkeit – die Fähigkeit, sich und die Umwelt so zu ordnen, dass sie interpretiert werden kann –, dem Gefühl der Machbarkeit – die Zuversicht, Herausforderungen und Probleme aktiv meistern zu können –, und dem Gefühl der Sinnhaftigkeit – etwas bewältigen zu wollen, weil es sich für sein Leben anzustrengen lohnt. Je stärker ein Mensch im Laufe seiner Biografie ein starkes „Kohärenzgefühl“ entwickelt, desto größer seine Chancen, gesund zu leben.

Ressourcen aktivieren

„Die Verfahren der Salutogenese bemühen sich, Menschen darin zu unterstützen, ihre Ressourcen, ihre Widerstandsfähigkeit und Selbstheilungskräfte zu aktivieren und ihr Immunsystem zu trainieren“, erklärt Harald Matthes, Leitender Arzt der Gastroenteorologie im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Gesundheit sei ein aktiver Prozess, den Menschen selbst beeinflussen könnten, wenn sie bereit seien, aktiv an sich zu arbeiten und für sich die Verantwortung zu übernehmen.

Im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe werden unter anderem in der Gastroenteorologie und bei Autoimmunerkrankungen, in der Schmerztherapie, bei Depressionen, Burn-out und Angsterkrankungen sowie in der Onkologie salutogene Verfahren eingesetzt: Die Kunsttherapie, die Meditation und verschiedene Entspannungsmethoden, Achtsamkeitstrainings und Bewegung sowie äußere Anwendungen wie Bäder, Massagen und Auflagen. Weitere etablierte Komponenten sind die Phytotherapie und die Psychotherapie.

Ähnlich multidisziplinäre Behandlungen werden Patienten in der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte angeboten. Hier werden sie zusammengefasst als Verfahren der Ordnungstherapie und der Mind-Body-Medizin, die aus dem Modell der Salutogenese heraus entwickelt wurden. „Die wichtigsten Säulen in unserem ,Tempel der Gesundheit‘ sind Bewegung, Atmung, Entspannung, Ernährung und naturheilkundliche Selbsthilfestrategien“, erläutert Anna Paul, Leiterin der Ordnungstherapie. Ausgangspunkt sei, dass sich Geist, Psyche, Körper und Verhalten sowie Gefühle, Gedanken, Einstellungen und soziale wie auch spirituelle Aspekte wechselseitig auf die Gesundheit auswirken.

„Alles Humbug, wo bin ich hier gelandet?“, dachte Edith Krüger (Name geändert), als sie 2008 in diese Klinik eingewiesen wurde. Sie war nach Jahren mit chronischen Kopf- und Gliederschmerzen am Ende ihrer Kräfte. Die Verkäuferin ließ sich anfangs nur widerwillig auf die Therapien ein: Yoga hielt sie für ein „blödes Verbiegen“, Qigong für überflüssig ebenso wie Achtsamkeitsübungen und Meditation. Vor Akupunktur hatte sie Angst und glaubte nicht, dass ein naturheilkundliches Kopfschmerzmittel ihr helfen könnte. Es kam anders: Die Lavendelölauflagen beruhigten ihr pochendes Herz, Yoga tat ihr gut, und nach der ersten Akupunkturbehandlung war sie schmerzfrei. „Ich fühlte mich leichter und spürte plötzlich eine Freiheit wie niemals zuvor“, erzählt sie heute.

Längst kann die 36-Jährige wieder arbeiten. „Das hätte ich niemals gedacht“, bilanziert sie, „das Gesamtpaket in der Klinik hat mir geholfen, aus meinem Loch zu kriechen. Früher hatte ich die Negativbrille auf, heute achte ich zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit auf schöne Dinge, nicht nur auf den Stadtlärm.“ Bevor ihre Kolleginnen kommen, nehme sie sich Zeit, um den Sonnengruß zu zelebrieren. Sie habe gelernt, gut für sich zu sorgen.