Devisen statt Enkel

KERALA Das Hochland von Wayanad im Nordosten des indischen Bundesstaats ist ein tropisches Paradies. Doch der stete Zustrom von Kapital aus den Golfstaaten beginnt das Gesicht der Region zu verändern

■  Kozhikode: Mit über einer halben Million Einwohner ist das ehemalige Calicut die größte Stadt im Norden des indischen Bundesstaats Kerala. Vasco da Gama betrat hier 1498 zum ersten Mal indischen Boden. Heute ist Kozhikode vor allem ein Zentrum der islamischen Gemeinde Indiens.

■  Vasco da Gama gelang es, das Gewürzmonopol der Araber zu brechen. Im Jahr 1506 wurde Afonso de Albuquerque Gouverneur aller portugiesischen Besitzungen in Indien. Portugals Einfluss äußerte sich in vielen Lebensbereichen: der Mode, Architektur, der Einführung bestimmter Anbausorten wie Cashewnüssen und Tabak, aber auch in religiöser Intoleranz.

■  Wayanad: Die Hochlandregion Wayanad ist ein Distrikt im Nordosten Keralas. Trotz zweier großer Nationalparks und eines milden Bergklimas spielt der Tourismus wirtschaftlich bisher eine geringe Rolle. Auf 700 bis 2.000 Meter lebt der größte Teil der Bevölkerung von der Landwirtschaft, insbesondere von Tee- und Kaffeeanbau.

■  Unterkunft: In Kalpetta/Wayanad: Green Gates Hotel (www.greengateshotel.com), in Kozhikode: Beach Hotel (www.beachheritage.com)

■  Anreise: Beste Verbindung ab Deutschland ist der Flug nach Cochin, zum Beispiel mit Qatar Airways ab Berlin über Doha. Von Cochin führt eine direkte vierstündige Zugverbindung nach Kozhikode. Der Linienbus von Kozhikode nach Kalpetta/Wayanad benötigt drei Stunden. Für Touren in Wayanad empfiehlt sich ein Mietwagen mit Chauffeur.

VON MARTIN JAHRFELD

Indien gilt unter Reisenden als anstrengend, doch oft kann es wunderbare, vollkommen unerwartete Annehmlichkeiten bereithalten. Etwa das Privileg, sich auch in großen Städten als einziger internationaler Tourist wiederzufinden. Auch nach zwei Tagen in Kozhikode, einer quirligen Küstenstadt im Norden Keralas, finden sich Ausländer nur beim Blick in den Hotelzimmerspiegel. Dass die gängigen Reiseführer die drittgrößte Stadt des Bundesstaats meist zum bloßen Transitstopp zwischen Goa und Cochin degradieren, erweist sich als Glücksfall. Was den Lonely Planetariern und ihrem Gefolge entgeht, genießen Abweichler umso mehr: Freundliche Blicke, euphorisches Hallo und stetig neue Straßenbekanntschaften, die sich schon nach fünf Minuten fast in Freundschaften fürs Leben verwandeln.

Selbst als wir nach langer Exkursion durch die angenehm gesichtslose Stadt in einem Restaurant ausruhen wollen, geht der Meet-and-Greet-Marathon ungefragt in die nächste Runde. Die Ankunft der Außerindischen versetzt die Kellnerriege in Verzückung. Selbst die Küchenkräfte legen kurz ihre Töpfe beiseite und treten zögernd an den Tisch, um zu erfahren, ob die servierten Dosas, hauchdünne Brotpyramiden mit Kartoffelpaste, auch nach unserem Geschmack seien. Of course Sir! It’s delicous!

Inder sind kommunikationsstarke Leute, und wer das nicht fürchtet, sondern mit gut gelaunter Ausdauer erwidert, begreift schnell: Die größte Sensation in diesem Land ist man selbst. Zwei Tage Händeschütteln und Schulterklopfen, Small Talk und Dauerlächeln reichen nicht zur Erleuchtung, aber doch zu einem Hochgefühl wie Obama im Vorwahlkampf. Plötzlich ist man das, was man daheim gern wäre: Ziemlich cool und begehrt, wunderbar entspannt und gefragt. Doch kein Glück ohne Kehrseite.

Manche Reisende erleben Derartiges eher als Alptraum. Sedara, die erste Westlerin, die wir hier schließlich doch noch treffen, ist mit den Nerven ziemlich am Ende. An Kozhikodes gepflegtem Stadtstrand, wo Mangosaft schlürfende Großfamilien unsere Begegnung mit amüsierter Distanz beobachten, erzählt sie ihre Geschichte. Die Engländerin ist der Einladung ihrer langzeitreisenden Tochter gefolgt, doch die hat ihre Mama nach wenigen Tagen wieder verlassen, um sich zur Meditation in einen Ashram zurückzuziehen. Sedara ist reiseerfahren und kennt Indien noch aus Hippiezeiten. Doch hier und heute, allein und als Frau Mitte fünfzig sei Indien einfach nur sehr, sehr anstrengend: „It’s a drag.“ Zumal es mit ihrer Gesundheit im Moment nicht zum Besten stehe. Wir äußern Bedauern, behalten unsere Meinung über ihre Tochter aber für uns. Offenbar zählt der Nachwuchs zu jener Sorte Indienfans, die viel von Spiritualität redet, aber nur Egoismus praktiziert.

Auch in Kerala sind die Bande zwischen den Generationen nicht mehr so stark wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Weil der Bundesstaat über eine gut ausgebildete Bevölkerung, aber nur wenige attraktive Arbeitsplätze verfügt, verdienen viele Keraliten ihr Geld längst in den Boomregionen am Golf oder im Westen. Die meisten, so die verbreitete Ansicht, werden kaum dauerhaft zurückkehren.

„Wie sollen wir ohne Kinder und Enkel nur die Mühen des Alters ertragen?“, lautet eine häufige Klage in den Leserbriefen der Zeitungen. Die einschlägigen Antworten der Blätter könnten auch an deutsche Senioren gerichtet sein: „Finden Sie ein anspruchsvolles Hobby! Werden Sie wohltätig! Entdecken Sie das Reisen! Es gibt ein Leben ohne Kinder!“

Was der Region durch Abwanderung an familiärer Nestwärme verloren geht, kehrt in Gestalt von Devisen zurück. Gelder aus den Emiraten sind längst zur wichtigsten Einnahme des Bundesstaats geworden. Der stete Zustrom von „Gulf money“ hat die Lebensbedingungen vieler Familien und Gemeinden spürbar verbessert, aber auch das Tor für fragwürdige Investitionsprojekte und Spekulation aufgestoßen. Selbst im Distrikt Wayanad, einer traumhaft grünen Hochlandregion mit üppigen Kaffee-, Tee- und Gewürzplantagen, Nationalparks und Wildtierbeständen, sind die Vorboten dieser Entwicklung bereits zu erkennen.

Während der Linienbus die Serpentinen hinaufächzt und der schweißgebadete Fahrer Horden furchtloser Makakenaffen von der Straße hupt, beginnen Großplakate mit schicken Hochhäusern das Panorama zu verschandeln. Der Baubeginn steht offenbar bevor. „Invest in Wayanad! Only three apartments left!“

Auch nach der Ankunft in Kalpetta, einem quirligen Provinzkaff und beliebter Startpunkt für Exkursionen, ist der neue Reichtum unübersehbar. Neben Hindutempeln, Moscheen und Kirchen, die auch hier die besondere multikulturelle Tradition Keralas dokumentieren, fallen zahlreiche Juwelierläden ins Auge. Sie zielen auf eine neue Mittelschicht, die am Wochenende nicht nur von der Küste, sondern auch aus der IT-Metropole Bangalore anreist, um das Hochlandklima und Keralas liberale Alkoholgesetze zu genießen.

Die ökologischen Verwerfungen des neuen Geldes deuten sich erst an. Die Eigentümer des größten Hotels am Ort, eine islamische Familie, bauen mit „Gulf money“ dreißig Kilometer weiter in unberührter Berglandschaft eine weitläufige Bungalowanlage für betuchte Städter – Hubschrauberlandeplatz inklusive. Was sich in Wayanad abspiele, sei „eine Katastrophe in Wartestellung“, glaubt der Reiseveranstalter Gopinath Parayil, der mit seinem Unternehmen auf Nachhaltigkeit setzt und sich im Süden Keralas für Gewässerschutz und den Erhalt regionaler Kultur engagiert.

Die Katastrophe wird hoffentlich noch lange auf sich warten lassen. Spaziergänger, die von Kalpettas geschäftiger Hauptstraße in die Nebengassen abzweigen, finden sich schon nach fünf Minuten in einer Kulturlandschaft, deren tropische Lässigkeit verzaubert. Knallbunte Häuser mit gepflegten Vorgärten, dichte Plantagen und Wälder, exotische Vögel mit noch exotischeren Singstimmen, fröhliche Schulkinder und staubige Baseballfelder vermitteln zumindest dem Touristenauge eine Idylle, die keiner Hotelspekulanten und Hubschrauberlandeplätze bedarf.

Auch Herr Hanifa, ein Grundbesitzer, der sich, nachdem er uns entdeckt hat, zunächst misstrauisch gibt, fügt sich ins harmonische Gesamtbild. Die Skepsis ist rasch verflogen und die Fremden werden zu einer Privatführung durch die Umgebung eingeladen.

Der 45-Jährige hat noch nie woanders gelebt und kennt hier jeden und alles. Sachkundig und geduldig erklärt er, was die Landleute beschäftigt: die Affenfamilien in den dichten Baumkronen („machen nichts als Ärger“), der schlechte Zustand der Pfefferbäume („böser Insektenschädling“), die gute Qualität der Teepflanzen („der beste Tee der Region“), die sinkenden Weltmarktpreise für Kaffee („ein schlimmes Problem“).

Dass der Zustrom von „Gulf money“ den kulturellen Zusammenhalt der Region eines Tages aus den Angeln heben könnte, hält er für unwahrscheinlich: „Ich bin Muslim, meine Freunde sind Hindus und Christen. Wir leben in Kerala seit fünf Jahrhunderten bestens zusammen. Was sollte das neue Geld daran ändern?“