Das Grauen ist handgemacht

Gehäkelt, gestickt, geflochten: Fleißige Hände haben sich geregt, damit selbst Weihnachtshasser etwas Ansprechendes finden. Statt auszugehen und rumzustehen, musste unsere Autorin diesmal Weihnachtsmärkte abarbeiten. Ein Ergebnisprotokoll

VON LORRAINE HAIST

Am Wochenende habe ich das Grauen gesehen. Man muss dafür nicht erst in ein Krisengebiet reisen, für drei Euro gibt es das schon in Berlin-Mitte. Dort lockten zwei alternative Weihnachtsmärkte schon früh am Tag so viele BesucherInnen an, dass sich vor den Eingängen lange Schlangen bildeten.

Im Innern des Cafés Moskau bot ein Basar namens „Holy. Shit. Shopping.“ zum dritten Mal allerhand Unbrauch- und daher Verschenkbares an, wonach Berlin-Touristen und Fans von Impro-Kunsthandwerk sonst auf Spaziergängen durch Prenzlauer Berg oder Friedrichshain erst suchen müssen. Ein ähnliches Bild in einer Kirche an der Invalidenstraße: „3 & 33“ nennt sich dort die vorweihnachtliche Verkaufsausstellung, die dem vielen die Augen beleidigenden Selbstgebastelten mit einem größeren Angebot an Produktdesign und italienischen Feinkostsnacks entgegenwirken will.

Nachmittags pressen, drängeln und rempeln sich hier zum Lärm von DJ und Tombola-Ansager so viele Menschen von Mitte 20 und Mitte 30 durch die Gänge, dass nur noch die Flucht ins „Kinderland“ bleibt. Aber auch hier ist es voll, schließlich sind die meisten der feilgebotenen Waren für die kinderreiche Zielgruppe der Berliner Web 2.0-Biocons gemacht – und die haben sich zum lässigen Weihnachtsshopping ihren Nachwuchs umgeschnallt.

Alles hier ist nett, süß und freundlich. Noch dem größten Skeptiker wird mit lächelnder Nachsicht erklärt, dass die handgefilzte Wärmflaschenhülle eine Herz-, und eben gerade keine Christbaumkugelform habe.

Zur Veranschaulichung hier 11 mit eigenen Augen gesehene Neoweihnachtsprodukte, die man tatsächlich für Geld kaufen kann:

1. Baumschmuck in Revolver-, Handgranaten-, Kalaschnikow- und Morgenstern-Form, für „coole Weihnachts-Säue“ und 4 Euro/Stück.

2. Slogan-Pulswärmer aus Mohairwolle, auf denen beispielsweise „Erfolg“ geschrieben steht. Für die Selbstmotivation, wenn es mit der digitalen Boheme noch nicht so gut läuft.

3. Gürtel aus Kleinbildnegativen in der Klarsichtgeschenkbox für 29 Euro. Wenn die Kreativität einfach rausmuss.

4. Fotos auf MDF-Platten, das Stück für 12,50 Euro. Hätte man auch mal selbst drauf kommen können.

5. Neue Schürzen aus alten Schürzen mit so programmatischen Aufdrucken wie „Glück“, „Mutterglück“, „Heimathafen“ oder „Heldin“. Für all diejenigen, die den Beruf der Hausfrau und Mutter gerade wieder als Berufung für sich entdecken.

6. Interaktive Doku-DVD „Ich war im Rio – Der Club als Projektionsfläche für Sehnsüchte, Wünsche und Erwartungen“ (9,60 Euro). Ideales Geschenk für alle, die sich vom Sofa aus mal wieder daran erinnern wollen, wie das so war, damals, als man noch ausging.

7. „Liebeshandgranate“, gefüllt mit Smarties und Konfetti (14 Euro). Sieht aus wie ein Blindgänger, ist ein Blindgänger: Kann tatsächlich nichts weiter, als Smarties und Konfetti enthalten.

8. „Berliner Plätzchen“ – Buttergebäck in Architekturdenkmalform, die Dose für 8,50 Euro. Ausgabe „Museumsinsel Plätzchen“ enthält zweimal Nationalgalerie, zweimal Pergamonmuseum, zweimal Altes Museum und einmal Bodemuseum. Bringen schlaue Weihnachtsheimkehrer zum Verwandtenkaffee am 1. Weihnachtstag mit. Erstickt alle Fragen nach dem Studienfortschritt im Keim.

9. Wer dann noch eine Kerze in Reichstags- oder Fernsehturmform (7 bzw. 8 Euro) danebenstellt, um den wird man sich endgültig keine Sorgen mehr machen.

10. Kreisförmige Wandbehänge aus alten Fußbodenbelägen (Ost und West), zwischen 10 und 80 Euro. Für Liebhaber naiver Kunst.

11. Und natürlich: Totenköpfe, Totenköpfe, Totenköpfe. Gehäkelt, gestickt, geflochten; in Salzteig, Püppchen- oder Taschenform. Niedlich. Oder doch nicht?