Schluss mit den Prognosen!

Endlich gibt es etwas ganz Neues in den Medien: die Wetterhinterhersage

In diesen Tagen tobt unter Wissenschaftlern ein heftiger Streit darüber, ob der Herbst der wärmste Herbst seit 100 Jahren, 250, 500 oder aber seit 1.300 Jahren sei. Die Bild-Zeitung weiß es selbstverständlich am besten: „Wärmster Dezember seit 1300 Jahren“, schlagzeilte sie kürzlich, und dabei ist der Dezember noch gar nicht zu Ende.

Der Streit wirft Licht auf ein Forschungsgebiet, das von Öffentlichkeit bisher als solches kaum wahrgenommen wurde. Immer mehr Forscher beschäftigen sich nicht mehr länger mit der Frage, wie das Wetter eventuell unter Umständen sein könnte, sondern damit, wie das Wetter war. Die Wetterhinterhersage gewinnt enorm an Bedeutung. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Wetternachrichten nicht die üblichen Vorhersagen und Dreitagesprognosen und genaueste Temperaturdifferenzen für jede Hausnummer in irgendeiner deutschen Innenstadt durchmelden, sondern dazu übergehen, zu berichten, wie das Wetter am Montag voriger Woche gewesen ist oder wie viel Prozent die Regenwahrscheinlichkeit am 1. April im Jahr 806 in der Gegend von Detmold betrug.

„Werfen wir einen Blick auf das Wetter von gestern“ – an diese Ansage wird man sich in Zukunft wohl gewöhnen müssen. Die Bereitschaft der Bevölkerung ist unzweifelhaft da. Kein Mensch kommt aus dem Urlaub, um die Frage zu beantworten, wie das Wetter dort in den nächsten Tagen nach seiner Abreise sein könnte. Alle wollen wissen: „Wie war’s?“ Der Präsens ist das höchste der Gefühle, wenn man auf einer Postkarte schreibt: „Wir haben gutes Wetter.“ Niemand schreibt: „In drei Monaten soll es hier wahrscheinlich schneien.“

Der Vorteil der klassischen Wetterhinterhersage gegenüber der Prognose: Sie ist viel genauer und zuverlässiger als die stets wackligen Visionen der Meteorologen. Eine Woche zurück, zwei Wochen, ganze Monate, Jahre – für die Wetterhinterhersage kein Problem.

Im Grunde bestehen die Nachrichten seit jeher aus Meldungen über Dinge, die längst vorbei, im Laufe des Tages passiert und rein ontologisch abgehakt sind – nur der Wetterbericht bildete bisher eine höchst altmodische Ausnahme. Denn berichtet kann nur etwas werden, das in der Vergangenheit liegt. Wetterprophetie wäre das richtige Wort für das, was da stattfindet. Die aber ist völlig überflüssig. Zu Recht hat Max Goldt Leuten, die wissen wollen, wie das Wetter ist, empfohlen, aus dem Fenster zu schauen. Wer wissen will, wie das Wetter in drei Tagen ist, soll in drei Tagen aus dem Fenster schauen. Das kann jeder für sich selbst erledigen, dazu braucht es keine Wetterstation, keine Satellitenbilder und keine dieser unappetitlichen Abbildungen von sich quallenförmig ausbreitenden Tiefdruckgebieten, die alle auch noch so heißen wie Mitschüler in einem Streber-Gymnasium.

Die Hinterhersage hingegen – ein Gedicht! Zugegeben: Sturmwarnungen für vorgestern oder Blitzeis-Meldungen für den 8. Dezember 2002 sind sicher nur für echte Wetterfexe relevant, die derlei Informationen geistig und persönlich weiterbringen. Aber eine Nachrichtensendung, die mit der Meldung schlösse: „Übrigens, gestern hat’s mal genieselt“, würde das zuvor abgehandelte hochdramatische Welt- und Tagesgeschehen auf eine ganz neue, stimmige und fast poetische Weise einordnen und gleichsam abrunden.

Worum geht’s hier noch mal? Um den Herbst. Ist er nun der wärmste seit 100 Jahren, 250, 500 oder sogar 1.300 Jahren? Die Antwort: Alle Zahlen sind richtig! Die 100 Jahre beziehen sich auf den Beginn der Wetteraufzeichnungen in Deutschland. 250 Jahre liegen Daten für die Alpenregion vor, 500 Jahre für die Schweiz. Die 1.300 Jahre errechnete das Zentralinstitut für Meteorologie und Geodynamik anhand von Baumringen, Eisbohrkernen und Gletscherdaten.

Das ist ja das Schöne an der Wetterhinterhersage: Auf sie ist absolut Verlass. RAYK WIELAND