Der falsche Traum

Viele halten im Zypernkonflikt die Zyperngriechen für die Schufte, die der Türkei den EU-Beitritt versperren. So ist es nicht. Ein Plädoyer für mehr Realismus in der Zypernfrage

Es gibt in Europa kaum Politiker, die wissen, worum es in Zypern überhaupt geht Nüchtern betrachtet existieren zwei Zypern, die nicht miteinander wiedervereinigt werden wollen

Im Jahr 2004, nach dem Nein zur Wiedervereinigung, hatten die griechischen Zyprioten in Europa überhaupt keine Freunde mehr. In der FAZ wurde das damalige Votum als „klare Absage an Versöhnung, Zusammenarbeit und eine gemeinsame Zukunft“ bezeichnet und damit auch an das „europäische Friedensprojekt“. Inzwischen ist die griechische Republik dennoch Mitglied der EU geworden. Und hat plötzlich wieder Freunde.

Die Konservativen sehen die Zypernfrage als taktisches Mittel, um noch einmal Front zu machen gegen den EU-Beitritt der Türkei. Solche Unterstützung wirkt in linksliberalen Kreisen verdächtig. Dort gelten die Zyperngriechen ohnehin als üble Nationalisten; nun aber sitzt der „Herr Papadopoulos“ auch noch im „Bremserhäuschen“ bei den Verhandlungen mit der Türkei, so Cem Özdemir im Deutschlandfunk. Dabei bemühe sich die Türkei doch wirklich, die „Spielräume“ zu nutzen. Jürgen Gottschlich fand es in der taz angesichts der ablehnenden Haltung mancher EU-Staaten nicht verwunderlich, „dass die meisten Türken dahinter nichts anderes als einen willkommenen Vorwand vermuten, die Verhandlungen im Sande verlaufen zu lassen“. Die Türkei, das arme Opfer von verknöcherten Zyperngriechen und dem exklusiven „christlichen Club“ in der EU?

Eigentlich scheint es keine besonders weitreichende Forderung zu sein, wenn man von der Türkei verlangt, sie möge doch vor dem Beitritt bitte alle EU-Mitglieder anerkennen. Die zuletzt angekündigte Öffnung eines Hafens und eines Flughafens für den Verkehr aus dem Süden von Zypern wirkt da nicht besonders imposant – zumal man im Gegenzug eine Normalisierung des Handels mit dem Norden fordert, also mit jenem staatlichen Gebilde, das nur von der Türkei und Bangladesch anerkannt wird. Viele Linksliberale finden dieses Angebot in Ordnung in Anbetracht der historischen Sensibilitäten.

Solches Einfühlungsvermögen ist fragwürdig. Als die türkischen Truppen 1974 in Zypern landeten, da war deren Intervention gerechtfertigt. In Nikosia hatte es einen von der Junta in Athen angestifteten Putsch gegen Präsident Makarios gegeben. Wenige Tage später freilich waren nicht nur die Putschisten am Ende, sondern auch die Militärregierung in Athen. Ministerpräsident Bülent Ecevit hätte der Held einer türkisch-griechischen Versöhnung werden können. Anstatt dessen läutete er eine zweite Phase der Intervention ein – die Türkei eroberte fast 40 Prozent der Insel. Es gab etwa 2.000 Tote, zirka 1.600 Menschen werden teilweise bis heute vermisst, und 200.000 Griechen flohen über die „grüne Linie“ nach Süden.

Danach wurde der Norden von der Türkei quasi annektiert. Die ehedem von Griechen bewohnten Dörfer wurden mit Einwanderern aus dem Hinterland der Türkei aufgefüllt, um die demografische Zusammensetzung nachhaltig zu verändern. Orthodoxe Kirchen wurden zu Moscheen umgebaut. Jedes noch so winzige Dorf erhielt eine Büste des türkischen Staatsgründers Atatürk. Widerwärtig propagandistische Museen und Denkmäler erinnern an die „Friedensoperation“ von 1974. Es folgte die Gründung der „Türkischen Republik Nordzypern“ unter der Führung des durch und durch korrupten Rauf Denktas – beschützt von etwa 35.000 türkischen Soldaten.

1974 lagen zwei Drittel der Industrieanlagen und der überwiegende Teil der touristischen Infrastruktur im Norden. Heute ist Nordzypern arm. Wer jemals in Nikosia von der einen auf die andere Seite gegangen ist, der erlebt einen veritablen Schock. Denn die Griechen sind in den letzten dreißig Jahren durch eine Mischung aus mittelständischer Unternehmenskultur und der Etablierung der Insel als „Offshore“-Bankenplatz zu Wohlstand gekommen. Dieser Reichtum war einer der Hauptgründe, warum Zypern überhaupt als EU- Kandidat gehandelt wurde. Damals dachte man bei der EU, dass die Aufnahme die Probleme im Handstreich beenden würde. Schließlich waren die Türken im Norden nach 30 Jahren kompletter Blockadepolitik ja bereit, mit dem griechischen Teil zusammen die Segnungen der EU in Empfang zu nehmen.

Doch der so genannte Annan-Plan war problematisch. Der Plan sah eine Teilung der Macht nach ethnischem Schlüssel mit einer schwachen Zentralregierung vor – eine solches Modell hatte in den Sechzigerjahren schon einmal zu massiven Problemen geführt. Es hätten weniger griechische Flüchtlinge zurückkehren dürfen als erwartet. Schließlich gestattete die fünfte Version des Plans der Türkei, Truppen auf der Insel zu lassen. Nur wenige hundert, doch die Symbolwirkung war nicht zu unterschätzen. Möglicherweise aber war der Plan selbst gar nicht der ausschlaggebende Grund für das „Nein“. Die Griechen wussten, was die Wiedervereinigung in Deutschland gekostet hatte, und waren einfach nicht bereit, ihren Wohlstand zu teilen.

Doch die Positionen und Befindlichkeiten der griechischen Zyprioten tauchen in den Diskussionen kaum einmal auf. Zweifellos ist Tassos Papadopoulos ein Hardliner, aber er stammt noch aus der Generation von Politikern, welche die Unabhängigkeit Zyperns gegen die Briten erkämpfen mussten. Mittlerweile sitzt auch die sozialistische AKEL mit in der Regierung – sie hat den Annan-Plan befürwortet. Es gibt also Raum zum Reden, doch alle Gespräche müssen zuvor in Erwägung ziehen, dass es seit dem „Nein“ eine neue Ausgangslage gibt.

Doch leider verstehen nur wenige Leute in Europa – seien es Politiker oder Kommentatoren –, worum es in Zypern überhaupt geht. Anstatt stets an den gleichen Punkten entlang zu verhandeln, wäre es besser, den Realitäten ins Auge zu blicken. Die Türken wollten nicht in erster Linie eine Wiedervereinigung, sondern in die EU. Und die Griechen wollten überhaupt keine Wiedervereinigung. Im Grunde ist lange schon klar, dass der Alleinvertretungsanspruch der Republik im Süden nur eingeübte Rhetorik ist. Im Norden gibt es heute facts on the ground, die unumkehrbar sind – der Norden ist verloren. Jene Griechen, die so dringend in ihre alte Heimat „zurückkehren“ möchten, sollte man fragen, ob sie tatsächlich von einem türkischen Bürgermeister regiert werden wollen.

Den jungen Leuten im weltoffenen Süden ist Nordzypern unterdessen völlig gleichgültig – und sie haben kein Interesse, für die Renovierung der Hotelruinen von Famagusta aufzukommen. Das Nein von 2004 hat gezeigt, dass der Süden sich selbst genügt. Es gibt also zwei Zypern. Die EU muss klarmachen, dass der Beitritt der Türkei einen neuen Horizont aufspannen könnte für eine Lösung jenseits der nationalstaatlichen Wiedervereinigung, denn die EU ist ein Staatenbund mit durchlässigen Grenzen. Allerdings muss Europa zunächst darauf drängen, dass die Türkei den Süden vorbehaltlos anerkennt. Zudem muss sie eingestehen, dass die Besetzung der Insel keine „Friedensoperation“ war, und bereit sein, für das damalige Unrecht Entschädigung zu zahlen.

MARK TERKESSIDIS