Gaddafis Unrechtssystem
: KOMMENTAR VON REINER WANDLER

Die EU wacht auf. Nach den gestrigen Todesurteilen gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt in Tripolis merken die EU-Kommissare, dass sich in Libyen doch nicht so viel geändert hat, wie sie gerne glauben möchten. Zwar verstand es Staats- und Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi zuletzt geschickt auf der internationalen Bühne zu agieren, doch zu Hause in seiner Volks-Dschamahirija – dem von ihm selbst ausgedachtem System – sieht es aus wie eh und je. Menschen- und Bürgerrechte sind ein Fremdwort.

Das zeigen unzählige Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen: Oppositionelle verschwinden ohne Anklage hinter Gittern; illegale Immigranten werden interniert und in die Sahara abgeschoben. Es gibt nicht die geringsten Freiheiten in diesem Land. Das Urteil gegen die sechs Angestellten aus dem Krankenhaus in Benghasi illustriert zudem al-Gaddafis Propaganda vom perfekten Libyen. Die Infektion von 400 Kindern mit dem HI-Virus darf nämlich nicht die Folge katastrophaler Zustände im Gesundheitssystem, sondern muss von außen eingeschleppt worden sein. Und bei einer so großen Schuld ist es nur normal, dass die sogenannte libysche Rechtsprechung sich für die Todesstrafe entscheidet.

Jetzt rächt sich, dass die EU zu großzügig über die Menschenrechtsverletzungen in al-Gaddafis Reich hinweggeschaut hat. Kaum zahlte der Libyer Entschädigung für die Opfer von Lockerbie und La Belle, kaum verzichtete er auf Massenvernichtungswaffen, wollte jeder der Erste sein im Beduinenzelt des Obersten: Aznar, Blair, Berlusconi etc. Erdöl und – mindestens ebenso wichtig – die Hilfe bei der Abwehr von afrikanischen Flüchtlingsströmen sind ihnen wichtiger als Menschenrechte.

Bleibt zu hoffen, dass dieses Mal die EU-Kommission ihre harsche Kritik ernst meint und eine weitere Zusammenarbeit Libyens mit der EU nur auf Grundlage des Respekts der Grundrechte stattfinden kann. Die EU muss genauer hinschauen, mit wem sie ins Geschäft kommt. Im Falle Libyens sollte dies selbstverständlich auch dann weiter Bestand haben, falls die sechs Verurteilten doch irgendwann noch freikommen.