Provinz ist, wo kein Licht

In São Paulo sollen im nächsten Jahr die Leuchtreklamen ausgeknipst werden – der Moral zuliebe

Gegen diese Stadt nehmen sich selbst Paris oder London wie Flecken aus: São Paulo hat 20 Millionen Einwohner – und es kommen immer mehr. Die Stadt glänzt, nachts vor allem, der Himmel dunkel, aber alles bleibt urban hell. Die konservativ-liberale Mehrheit im Rat dieser Stadt, keineswegs die sozialdemokratische Minderheit kam nun auf die Idee, sich an den gleißenden Fassaden in der City zu stören. Konkret: an den Reklamen. Zum 1. Januar des kommenden Jahres sollen sie alle verschwunden sein.

Getilgt werden sollen Sündenfälle – denn die Flut der an den Hochhäuserwänden prangenden Lichtreklamen wirbt für Sexualisiertes, auch für die jeweils neueste Ausgabe des Playboy. Wie eine Stadt ohne Reklamelichter illuminiert bleiben will, ist insoweit offen: Wenn die Stromkosten nicht mehr durch Werbeagenturen und deren Auftraggeber beglichen werden, müssen sie aus öffentlichen Haushalten kommen. Aber São Paulos Säckel ist klamm. Andererseits will niemand eine verdunkelte Stadt: Eine Metropole, die nicht leuchtet, wusste schon der Architekturtheoretiker und Stadtplaner Hugo Häring in den Zwanzigern, ist keine: „Man ist versucht zu sagen, die Intensität einer Weltstadt kann gemessen werden an der Intensität ihres nächtlichen Lichtbildes. Wo nachts keine Lichter brennen, ist finsterte Provinz.“

Ohne Reklamen sähe der Rathausplatz von Kopenhagen nicht anders aus als der von, sagen wir: Paderborn. Ohne den reklamegesättigten Times Square in New York kein Downtown-Gefühl, keine Verheißung von Nacht, vom Dunkel und vom Weg durch den Dschungel des Antidorfs schlechthin: Lichtschluckend jedes Dorf – und zwar in jeder Hinsicht: sozial, psychologisch, lebensstilistisch.

Doch die São-Paulo-Idee hat erste Inspirationen gestiftet. Neulich entbrannte im winters wahrlich nicht naturlichtgesegneten Bergen an der norwegischen Atlantikküste eine Debatte um die hübsche Idee der Brasilianer – in vertraut protestantischer Manier: Werbung als Verlockung, als Kniefall vor dem Moloch namens Babylon, der Hure, die doch nur nett leben wollte.

Eine Stadt jedenfalls ohne Licht ist schon definitorisch keine: São Paulo wird gut antiamerikanisch, wie man sich dort versteht, erst mal probieren, wie es funktioniert: ein Lichtermeer zu wollen, ohne Verführung zum Warenförmigen. Und wird zurückfinden zur wahren Wirklichkeit: Verführt werden kann nur, wer verführbar ist. JAF