Süßer die Glocken nie klingen – Musiktipps aus der Redaktion
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Kaum Bindung

Charlotte Gainsbourg: The SongsThat We Sing John Maus: Do Your Best Junior Boys: In The Morning Hot Chip: Boy From School(Maida Valle Version) Peter Björn and John: Young Folks(Tomas Andersson Remake) Gnarls Barkley: Crazy Jacques Perrey: Moog Acid 138 Die Goldenen Zitronen: Wenn ichein Turnschuh wär … Blood Brothers: Set Fire ToThe Face On Fire Delia Gonzalez & Gavin Rossum:Revelee (Carl Craig Remix) Rhythm & Sound: See Mi Yah(jede Version)

Mach dir nichts vor, es gibt diese eine Platte nicht, die nur für dich gemacht ist. Wo also konnte man sich 2006 als mündiger Popbürger seine Diskurse und überhaupt seinen Distinktionsgewinn abholen? Sollte man einer der überall wie Haargel aus der Retrotube schießenden Neo-New-Wave-Bands folgen? Mit der Mehrheit über den Verfall von Robbie Williams lästern? Oder doch lieber auf Esoterik, Folkbärte und Filzhüte setzen? Vive la différence! Auch wenn auf jedem Rechner für so ziemlich alles Platz ist, was sich in Tauschbörsen finden und runterladen lässt. Scannen, abnicken, weiterreichen – 2006 war das Jahr allergrößter Geschmacksdiversität bei einem gleichzeitig immer geringer werdenden Gefühl von Zugehörigkeit. Anders gesagt: Für alle, für die nicht alles ging, ging am Ende meist Joanna Newsom. Und wenn nicht die, dann eben The Whitest Boy Alive oder Hot Chip oder Gnarls Barkley oder Lily Allens „Smile“ oder die Flöt-und-Nörgel-Kombination von Peter Björn and John.

Tatsächlich hat es so viel Konsens seit dem Popsommer 1982 kaum mehr gegeben. Aber eine Rückbindung dieser Gemeinsamkeit ans Leben, die fehlte. Viel Irgendwie, aber mit Stil. Was der Idee von Gegenkultur durchaus schadet: Wenn Jugend nicht aufgrund von Gegnerschaft, Nichteinverstandensein oder einem krummen Antihaarschnitt zusammenkommt, sondern nur wegen lose geteilter Idiosynkrasien, dann ist es nicht weit her mit dem revolutionären Ruck, der durchs Kollektiv gehen könnte angesichts von Prekärkram, Klimawandel and all that jazz. Dann ist jeder mit seinem guten Geschmack für sich allein, den Rest regelt Myspace.com, wo selbst der vergessene französische Potpoet Dashiell Hedayat einen kleinen Soundfile-Schrein hat. Zu dieser Fetischisierung des Individuellen passt umgekehrt auch, dass sich die FAZ aus Freude über die feinen Unterschiede feucht fantasieren durfte, weil die erste Velvet-Underground-Testpressung bei Ebay für 155.000 Dollar wegging. Rockt aber auch nicht besser als die Bananen-CD aus’m sausaubiligen Mediamarkt. HARALD FRICKE

Viel Widersprüche

Skream: Midnight Request Line

Justin Timberlake: My Love

Gnarls Barkley: Transformer

J Dilla: Nothing Like This

Georgia Anne Muldrow: Melanin

Jan Delay: Kartoffel

Vert: Velocity

Outkast: Life Is Like A Musical

P. Diddy: The Future

Nas: Can’t Forget About You

Max Turner: Awa’ With The Birds

Burial: Broken Home

Auch in diesem Jahr ist Hiphop gleichermaßen populär und prekär gewesen. Je mehr Widersprüche es dabei auszuhalten gilt, desto besser klingt’s – nie mehr aber so wie mit J Dilla, der geniale Beaterneuerer erlag am 10. Februar einer Blutkrankheit. 2006 veränderten vor allem Südlondoner Kids die Landschaften im Bereich langsamerer Geschwindigkeiten. So gehören Skream und Burial zu einem hyperaktiven Reservoir aus Dubstep-Producern, die mit transatlantischem Treibgut Langsamkeit und Frequenztiefe auf dem Planet Rock ausloten.

Auch sonst verlaufen die Fluchtlinien von und zu Hiphop zunehmend steiler: Max Turner spricht in elisabethanischen Zungen über folkigem Krauthop; der Laptop-Musiker Vert wird zum Ragtime-Rapper mit einem Faible für Pynchon-Romane; und Georgia Anne Muldrow nutzt das eigensinnige Jahr des Hundes, um die kosmische Energie von Alice Coltrane anzuzapfen. Übersichtlicher wird’s dadurch kaum. Der Sommerhit von Gnarls Barkley war ja auch deswegen so erfreulich, weil er für dreieinhalb Minuten kollektiven Kopfnickens wieder Zusammenhang in den Mikroöffentlichkeiten der MySpaces stiftete. Auf Albumtracks wie „Transformer“ überforderten sie wiederum gekonnt mit der Haltung von Bebop.

Auch den Fürsten der Charts geht es mittlerweile wieder um mehr als öde Erfolgsverwaltung. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man inmitten der exzessiven Kommerzialisierung überhaupt noch kreativ sein kann, hat dabei zu bezeichnenden Ergebnissen geführt. Immer einen Schritt voraus tobten sich Outkast im Musical zum Album sinnlos und stilvoll aus. Gerade hat Nas den Patienten für tot erklärt, nur um die klassische New Yorker Schule wiederaufleben zu lassen, nebenbei schreibt er sich in den Ruhm von Nat King Cole ein. Und in „The Future“ enthüllt P. Diddy seine soziale Ader und Hiphop als emanzipatorische Arbeitsmaschine: „Ich bin der Mann, der Schwarzen mehr Jobs gegeben hat als die Armee“ – so lautet die Punchline aus der Feder seines unverkennbaren Ghostwriters Pharoahe Monch. Lebe wohl, Authentizität. Vielleicht sehen wir uns mal unter der Discokugel wieder, wo sich Jan und Justin zufällig zum gemeinsamen Style des Jahres gratulieren dürfen. UH-YOUNG KIM

Woher kommt’s?

Matmos: Steams And SequinsFor Larry LevanMFSB: Love Is The Message Chateau Flight: Baroque Justin Timberlake feat. T.I.: My Love The Knife: From Off To On Uffie: Ready To Uff Final Fantasy: This Lamb Sells Condos Jens Lekman: A Sweet Summer’s Night On Hammer Hill Amy Winehouse: Rehab Chicks On Speed: My Space

Kein Jahr vergeht, ohne dass man Larry Levan, dem längst im Himmel tanzenden DJ der New Yorker Paradise Garage, gedenken würde. Interessant daran ist, dass mittlerweile irgendwie alles und jeder Larry Levan sein kann – je nachdem, wie man die paar Fakten, die über den Plattenmischpionier tradiert sind, auslegt. In der elf Minuten langen Luxusversion von MFSBs „Love Is The Message“ (von der „A Tom Moulton Mix“-Compilation) lässt sich so problemlos die Hymne erkennen, die früher die Exzesse in der Garage befeuert haben muss, während sich Chateau Flights „Baroque“ als der Hit empfiehlt, den Levan heute spielen würde – wenn es ihn und den Club noch gäbe. Matmos steuern eine Hommage bei: „Steams And Sequins For Larry Levan“ groovt ein wenig zu zickig – und wäre vom Meister deswegen wohl eher verschmäht worden.

Weiter mit mehr Geschichtsverdrehungen: Trance, eine Mitte der Neunziger zu recht beerdigte Techno-Spielart, tauchte 2006 wieder auf – als Mutant, und an Orten, an denen man es nie vermutet hätte. Timbaland lässt Justin Timberlakes „My Love“ von Synthie-Stakkati durchzucken, die in der Frequenz einer Großraumdisco-Lasershow getaktet sind; „Silent Shout“ von The Knife wabert auf einer scharf in der Lunge beißenden Trockeneisnebelwolke. Funktioniert hier wie da, komischerweise so, dass man nicht genug davon bekommen kann.

Neben dem Violine-plus-Spinett-Kammerpop von Final Fantasy und den zotigen Elektro-Reimen einer jungen Pariser MC namens Uffie wollen dann vor allem noch schöne „No No No“-Refrains im Ohr bleiben. Jens Lekman, ein Wonderboy aus Schweden, croont zu einem solchen in „A Sweet Summer’s Night On Hammer Hill“; Amy Winehouse, die in Großbritannien schon „Amy Winohouse“ genannt wird, weil sie ihr Herzeleid wohl gerne mit einem Gläschen zu viel begießt, hat den anderen – in „Rehab“, einem tollen Sixties-Soul- Wiedergänger.

2006 wird natürlich als das MySpace-Jahr in Erinnerung bleiben. Chicks On Speed möchten sich irgendwie zum Hype positionieren und kommen dabei auf die Idee, den ersten MySpace-Song aufzunehmen: „My Space“ ist zynisch, nervig, sehr catchy, und lässt sich nur auf gleichnamiger Webseite in matschigem 96-kBit-MP3-Sound runterladen. Ohne dieses Stück, und vor allem seinen Refrain, hätte dem Musikjahr eine Pointe gefehlt. „Let’s make history!“ JAN KEDVES

Das Mädchenjahr

Nelly Furtado: Maneater

Rihanna: S.O.S.

All Saints: Rock steady

Lily Allen: Smile

Beyoncé: Check on it

Amy Winehouse: Rehab

Jamelia: Beware of the dog

Gossip: Standing in the way of control

Sugababes: I bet that you look goodon the dancefloor

Robbie versus Justin? Pffff, wer sich in dieses Scheingefecht der Männlichkeitsmodelle schlug, verpasste die beste Popmusik des Jahres: Sie kam durchgängig von Frauen. Smart bis zum Gehtnichtmehr produziert und doch lässig in der Darbietung – Nelly Furtado und Co. retteten den Pop im aufreizenden Vorbeigehen. Aus alten Versatzstücken zusammengesetzt und doch aufregend neu klang ihre Musik – oder hätte jemand vor „S.O.S“ gedacht, dass man aus „Tainted love“ noch irgendwas Interessantes rausquetschen könnte?

Als Gossip-Sängerin Beth Ditto vom englischen Musikmagazin NME zur coolsten Person im Musikbusiness 2006 wählte, war zumindest auf der Insel der popfeministische Penny gefallen. Wir hier müssen wohl noch etwas warten, bis auch übergewichtige Lesben als Hipster anerkannt werden. Und mit einer deutschen Lily Allen, die den kinderlosen Singlejungs von der Popfraktion ihren scharlachrot lackierten Finger in die Seite bohrt, wird es wohl auch 2007 nichts. (Der letzte Song ist natürlich eine Mogelpackung, aber irgendwie musste noch die beste Platte des Jahres untergebracht werden.) HANNAH PILARCZYK

Size does matter

Coldcut: Walk A Mile In My Shoes(Henrik Schwarz Remix)

Hot Chip: And I Was A Boy From School Ricardo Villalobos: FitzheuerLCD Soundsystem: Original Run Delia Gonzalez & Gavin Rossum: Revelee (Carl Craig Remix)Joey Beltram: Energy FlashSoundstream: Love JamMorgan Geist: Most Of All

Larry Heard: The Sun Can‘t Compare

Wer es sich ganz einfach machen möchte in seinem Rückblicks-Mix auf das Jahr 2006 in der Tanzmusik, der nimmt nur ein Stück: Ricardo Villalobos „Fitzheuer“ zum Beispiel oder LCD Soundsystems „Original Run“. Nicht weil sie die besten wären – mit 38 und 45 Minuten sind nur lang genug, um das Tape fast alleine zu füllen. In Ermangelung des umfassenden Großtrends lässt sich dementsprechend sagen: 2006 war das Jahr, in dem die Stücke länger und länger wurden. Auch Henrik Schwarz großer Coldcut-Remix hat fast zehn Minuten, genau wie die Carl Craigs Remix von „Revelee“.

Wobei die Länge der Stücke die wahrscheinlich erst einmal letzte Folge der Minimal-Techno-Revolution ist, die die Tanzflächen in den vergangenen Jahren umgepflügt hat – zwar sind dieses Jahr so viel Plocker-Platten erschienen wie nie zuvor, aber ein Ende ist absehbar. Was ein ziemlich offenes Feld hinterlässt: Da gibt es den Electropop von Hot Chip oder den Junior Boys (deren Sänger mit Morgan Geist auch das wunderbare „Most Of All“ eingespielt hat). In zahllosen Bearbeitungen wurde das Disco-Erbe noch mal durch die Mangel gedreht. Und – wichtig für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –: Rave kündigt seine Rückkehr an, was sich vor allem durch die Wiederveröffentlichungen des belgischen Labels R&S bemerkbar machte. Und hört man Joey Beltrams sturzgemeines Bass-Monster „Energy Flash“, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, als wären die besten Tracks vielleicht schon gemacht.

TOBIAS RAPP

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