Die Freiheit in Glaubensfragen

Die Totalverbannung religiöser Symbole ist in einer liberalen Gesellschaft nicht möglich. Denn in den Streit der Weltanschauungen sollte sich der Staat besser nicht einmischen

Der liberale Staat verträgt weder eine Leitkultur noch einen multikulturellen WerterelativismusDas Elternrecht eines Vaters erlaubt es nicht, die Tochter gegen deren Willen vom Unterricht zu befreien

Im vergangenen Jahr haben die Konflikte um kulturelle Symbole sprunghaft zugenommen. Auf der einen Seite protestierten Muslime gegen Mohammed-Karikaturen und gegen Äußerungen des Papstes, auf der anderen Seite wurde über Gesinnungstests zur Einbürgerung von Muslimen oder über Lehrerinnen mit Kopftüchern debattiert; in Frankreich hat man das Tragen religiöser Symbole sogar Schülerinnen und Schülern ganz untersagt. Doch inwieweit ist es überhaupt die Aufgabe von Politik und Staat, Symbole zu reglementieren? Brauchen wir eine Leitkultur oder eher einen multikulturellen Relativismus, der kulturelle Differenzen einfach hinnimmt?

Seinen Bürgern die maximal gleiche Freiheit zu garantieren ist der Grundsatz einer liberaldemokratischen Grundordnung. Dieses Prinzip verträgt darum keinen multikulturellen Relativismus. Staatliche Zurückhaltung und „Toleranz“ müssen also enden, wo etwa männliche Verwandte junge Frauen bedrohen, um sie von anderen Männern fernzuhalten. Keinesfalls schützen die Freiheitsrechte den Bürger nur vor dem Staat (auch wenn die klassische liberale Rechtsmeinung das oft noch recht einseitig so sieht). Sie berechtigen ihn vielmehr auch dazu, vom Staat Schutz vor seinen Mitbürgern wie nahen Verwandten zu verlangen, sonst wäre die je gleiche Freiheit der Bürger ja nicht hinreichend sicher.

So erlaubt auch das „Elternrecht“ eines Vaters nicht, seine Tochter gegen deren Willen vom Sportunterricht zu befreien. Denn das Erziehungsrecht der Eltern stellt nur eine juristische Krücke dar, solange der Einzelne seine Entscheidungen noch nicht voll überschauen kann. Sie berechtigen nicht dazu, anderen nach Belieben den eigenen Willen aufzuzwingen.

In die Vorstellungen vom „guten Leben“ dagegen – also in persönliche Glückskonzepte und Weltanschauungen – darf sich eine demokratische Politik aus zwei wesentlichen Gründen nicht einmischen. Erstens stellt jede Beschränkungen hier einen Angriff auf die individuelle Freiheit dar – denn Freiheit heißt gerade, nach je eigenen Vorstellungen leben zu dürfen, solange nicht die Freiheit anderer dadurch beeinträchtigt wird. Und zweitens gibt es keine verallgemeinerbaren Maßstäbe dafür, was ein gutes Leben ausmacht. Darum passt die Idee einer Leitkultur, die eine bestimmte Variante eines „guten Lebens“ für alle als Norm vorgibt, genauso wenig zum liberalen Staat wie ein völliger Werterelativismus. Nur wenn das Konzept des guten Lebens des einen die Freiheit der anderen stört, wird das gute Leben zu einer Frage für die Politik.

Was aber heißt das genau? Weil die Freiheit die Richtschnur für die Lösung sozialer Konflikte ist, dürfen verschiedene Arten des guten Lebens nebeneinander existieren, sofern sie sich nicht ernstlich behindern. Eine laizistische Totalverbannung aller weltanschaulichen Symbole aus dem öffentlichen Raum ist darum ähnlich zweifelhaft wie eine „Leitkultur“. Erstens stellt sie eine unnötige Einschränkung persönlicher Freiheiten dar und träfe die freie Entfaltung und den freien Austausch der Bürger empfindlich. Und zweitens haben und zeigen wir letztlich alle irgendeine Weltanschauung. Auch das Tragen von freizügiger Kleidung oder von Jogginganzügen beim Bäcker drückt schließlich ein persönliches Glücksideal aus. Und könnten nicht sogar lange Haare als Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung getragen werden (vielleicht ja einer „linken“)? Genauso, wie jemand, der stets dunkle und dezente Maßanzüge trägt, damit ebenfalls eine bestimmte Weltanschauung explizieren könnte (diesmal eine eher „konservative“)?

In den privaten Raum verbannen kann man solche Symbole folglich nicht. Darum muss die Politik hier enthaltsam sein, solange die Freiheit der Mitmenschen nicht ernstlich betroffen ist – etwa, wenn eine muslimische Lehrerin die Schülerinnen zum Tragen eines Kopftuchs zu drängen oder gar für den „heiligen Krieg“ zu agitieren versucht. Daran darf der liberale Staat diese Lehrerin hindern. Nicht hindern darf er sie hingegen am Tragen ihres Kopftuchs. Man sage jetzt nicht, ein Kopftuch wirke intensiver als ein beliebiges anderes Kleidungsstück: So dürften Sportabzeichen oder kurze Röcke – die ja in der Sicht eines Muslims auch für eine Weltanschauung stehen können, nämlich eine emanzipierte – die Schüler wohl stärker beschäftigen als ein Kopftuch. Im Übrigen wird man als Schüler meist auf höchst unterschiedliche Lehrer treffen, die auch optisch den unvermeidlichen, begrüßenswerten Pluralismus liberaler Gesellschaften verkörpern.

Auch wer den „autoritären Charakter“ des Kopftuchs beklagt, sagt damit nicht nur etwas zutiefst Umstrittenes aus. Er wird zudem in den Streit der Weltanschauungen hineingezogen, aus dem sich ein Staat mit dem Grundgesetz als liberal-neutraler Verfassung gerade herauszuhalten hat. So könnte ein Muslim ja auch argumentieren, das Christentum sei in seiner Geschichte doch viel unfriedlicher gewesen als der Islam, es sei die Religion der Kreuzzüge. Wer jetzt erwidert, dies sei nicht „das wahre Christentum“, dem hilft dies nicht weiter. Denn ein liberaler Staat hat eben nicht darüber zu entscheiden, was die „wahre“ Interpretation einer Religion ist: Auch dies ist eine Frage des guten Lebens und nicht der Politik.

Die dauerhafte Möglichkeit liberaler Ordnungen und einer freiheitlichen Weltgesellschaft, die sich nicht durch fundamentalistische Dauerstreitigkeiten paralysiert wissen will, wird sich zentral daran entscheiden, ob die meisten Menschen und Kulturen dieser Welt freiwillig die dafür nötige Toleranz zu üben bereit sind. Erzwingen kann man eine freiheitliche Politik innerer Einstellungen wie Toleranz wohl nur mit Mitteln, die gerade die Freiheitlichkeit zerstören – und damit genau das, was es zu erhalten gilt.

Zuletzt kann man natürlich fragen: Warum sollte die Freiheit als universale Norm auch für Menschen gelten, die aus kulturellen Kontexten stammen, in denen die Unfreiheit vorherrscht? Doch in einer pluralistischen Welt streitet man nun einmal über normative Fragen. Dabei nutzen wir die menschliche Sprache – selbst Familienpatriarchen können das nicht vermeiden. Wer aber mit Begründungen und ergo rational, also mit Worten wie weil streitet, der setzt logisch voraus, dass seine Gesprächspartner die gleiche unparteiische Achtung verdienen wie er selbst. Denn Begründungen und Argumente sind das Gegenteil von Gewalt und Herabsetzung. Sie sind egalitär und richten sich an Individuen mit geistiger Autonomie, denn ohne Autonomie kann man keine Argumente überprüfen.

Über den rationalen Diskurs aber gelangt man zur Achtung vor der Autonomie der Individuen, der Menschenwürde – und zu einer gewissen Unabhängigkeit von Sonderperspektiven, der Unparteilichkeit als universalen Gerechtigkeitsprinzipien. Die Freiheit folgt just aus diesen Prinzipien. Deshalb ist diese Freiheit auch für die demokratische Mehrheit verbindlich.

FELIX EKARDT