Der Kleinste im Maschinenraum


VON ANNE HERRBERG

Grau-diesiger Himmel, Nieselregen und ein fieser Wind. Auf den Dortmund-Ems-Kanal wagen sich heute nicht mal wetterfeste Enten. Trüb und braun fließt die Brühe an den Hafenanlagen entlang – keine Kulisse für einen gemütlichen Nachmittag. Jan Tebrügge stört das wenig, auch wenn er nur einen dünnen Sportanzug am Körper trägt. Schließlich ist er nicht zum Spaß hier. „Training ist jeden Tag, egal welches Wetter“, erklärt er, „nur bei Minusgraden können wir nicht raus, da gehen die Boote kaputt.“ Gerade im Winter, ein halbes Jahr vor Beginn der Wettkampfsaison, ist Trainingszeit.

Zusammen mit seinem Ruderkollegen Ulf Siemens schultert Jan Tebrügge das gut drei Meter lange Zwei-Mann-Boot, trägt es über den Steg und setzt es dann behutsam ins Wasser. 90 Minuten dauert eine Trainingseinheit. Assistenztrainer Christian Viedh fährt am Anfang noch mit dem Motorboot nebenher, dann verschwinden die beiden am Horizont. Irgendwie seltsam, dass hier, im Dortmunder Hafen, die weltbesten Ruderer trainieren. „Ganz und gar nicht“, sagt Christian Viedh. „Wir haben in Deutschland seit Jahren einige der besten Trainer, und Dortmund ist das perfekte Ruderzentrum.“ NRW habe die meisten Ruderklubs Deutschlands und außerdem eine Infrastruktur, die es Leistungssportlern erlaubt, nebenher noch zu studieren.

Auch wenn Studium und Training oft schwer unter einen Hut zu bringen sind – Jan Tebrügge hat Glück. Die Professoren in Dortmund fiebern nicht nur mit, wenn er Wettkämpfe hat, sie verschieben zur Not auch mal eine Prüfung. Seit drei Jahren ist Jan Tebrügge Mitglied in der Mannschaft des Deutschland- Achters. Mit seinen 24 Jahren bei 1,90 Meter Größe ist er nicht nur der jüngste, sonder auch der kleinste der acht deutschen Topruderer, die gemeinsam rund 800 Kilo auf die Waage bringen. „Ohne Gewicht kein Schwung, ohne Schwung keine Geschwindigkeit“, erklärt der Physikstudent. Er war dabei, als die Mannschaft dieses Jahr in Eton seit elf Jahren endlich mal wieder den Weltmeistertitel holte. „Das war schon ein wahnsinniges Gefühl“, erinnert sich Tebrügge.

Kotzen vor Erschöpfung

Zudem eins, das überschlug. Sein Mitbewohner Stefan preschte nach dem Sieg kurzerhand durch die Zuschauerabsperrung und sprang dem Schild „Baden strengstens untersagt“ zum Trotz ins Weltmeisterschaftswasser, um seinem Kumpel eine Siegesfahne zu überreichen.

Eine halbe Bootslänge Vorsprung hatte der Achter vor dem Rivalen USA. „Dabei hatten die vorher geprahlt: ‚Crush the Germans‘, so Tebrügge. „Die dachten, sie überholen uns am Anfang und dann wäre unser Selbstbewusstsein so unten, dass wir es nicht mehr packen würden.“ Falsch gedacht. Die „no pain, no gain“-Strategie der US-Amerikaner, übersetzt etwa: Rudern, was das Zeug hält, auch wenn der Arm abkracht, zog nicht.

Deutschland-Trainer Dieter Grahn setzt da lieber auf die Philosophie „Kraft gepaart mit technischem Know-how“: hartes Training, Teamgeist stärken und Fingerspitzengefühl für die Stärken und Schwächen jedes Mannschaftsmitglieds. Der Schlagmann muss den Rhythmus vorgeben, der Bugmann muss ihn halten und dazwischen, im „Maschinenraum“, wird gepowert.

Hier sitzt Jan Tebrügge. Von jedem Ruderschlag, den er während des Trainings ausführt, werden mit Hilfe eines Messbootes etwa 100 Daten festgehalten: Kraftverlauf, Eintauchwinkel, Energieaufwand, Herzfrequenz, Stress. Regelmäßig muss er Tests absolvieren, am Ergometer oder in vereinsinternen Rennen. Ein todsicheres Konzept? „Hmm“, macht Jan Tebrügge und lacht. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich Rudern bis heute nicht verstanden. Manchmal klappt‘s, manchmal aber auch nicht, und niemand weiß, warum.“

So wie beim Worldcup in München. Da lag die Mannschaft eine drei Viertel Bootslänge hinten. Dass sie trotzdem gewonnen hat, ist dem psychologischen Geschick und einer knallharten Lüge des Steuermanns Peter Thiele zu verdanken: „Haut rein Jungs, wir liegen nur knapp einen Luftkasten hinten, hat er gesagt“, erinnert sich Tebrügge grinsend. „Da haben wir dann noch mal einen Spurt hingelegt.“ Über 25 Kilometer pro Stunde schnell kann so ein Achter schon mal werden. Das führte in München zum Sieg, aber auch dazu, dass Jan Tebrügge kurz danach ohnmächtig wurde und andere Teamkollegen vor Erschöpfung ins Wasser kotzten. Aber so ist das halt, eine Zwei-Liter-Flasche Cola und es geht wieder.

Rund 1.800 Kilokalorien verbraucht Tebrügge pro Trainingseinheit. Zweimal am Tag trainiert er, das macht einen Grundumsatz von sechs- bis siebentausend Kilokalorien. In der Praxis bedeutet das: eine viertel Packung Müsli zum Frühstück, zwei mal Mittag plus sechs Beilagen und zum Abendbrot 10 Scheiben Brot. Kein Wunder, dass er beim Essen immer in Zeitnot kommt. „Hektisch“ sei er beim Essen, sagt seine Familie. Aber was soll er machen, wenn in der gleichen Zeit über das Doppelte wie bei einem normalen Menschen rein muss? Denn Zeit ist knapp bemessen bei dem Leistungssportler, der nebenher ausgerechnet Diplomphysik studiert, wo er jede Woche Übungszettel ausfüllen und Laborstunden ableisten muss.

Training, Studium, essen

Rudern, lernen, essen. Im Grunde besteht Jan Tebrügges Leben aus Training, Studium und, na ja, Essen eben. „Viel mit Freunden unternehmen ist nicht drin“, sagt der Sportler. Immerhin war er in der Vorweihnachtszeit einmal Glühwein trinken mit seinen Mitbewohnern. Übrigens auch ein Ruderer und ein Steuermann, allerdings nicht im Deutschland-Achter. Jan Tebrügge wohnt in der legendären Ruder-WG in der Rheinischen Straße in Dortmund. Dafür, dass hier niemand Zeit hat, sieht die Wohnung ziemlich ordentlich aus. „Wir haben eben auch keine Zeit, etwas dreckig zu machen“.

Die Ruder-WG besteht seit sechs Jahren in wechselnder Besetzung, zusammengerechnet hat dort schon mindestens eine Achter-Mannschaft gewohnt. Jedes Jahr, kurz vor Weihnachten, gibt es eine Party. In diesem Jahr war dafür nicht so richtig Zeit. Denn die Ruderer müssen ausnahmslos jeden Samstag und Sonntag um neun zum Training antreten.

Auch im Studium muss er ranklotzen. Da er fast nie mit Kommilitonen zusammen lernen kann, brütet er oft bis spät abends alleine am Schreibtisch. Sein Zimmer ist genau aufgeteilt: in der einen Hälfte Physikbücher und ein Albert Einstein-Plakat, in der anderen Medaillen, ein Holzmodell vom Achter und Fotos von Ruderwettkämpfen. Dazwischen ein breites Bett mit Ikea-Bettwäsche. Gibt es außer Schlafen noch andere frei verfügbare Pausen? „Wann war der letzte Urlaub?“ Jan Tebrügge überlegt, isst zwei Lebkuchen, überlegt weiter, isst einen Schokoriegel, überlegt, greift wieder zur Süßigkeitenschale. „Wir waren halt im Trainingslager“, sagt er dann.

Warum ihn dieses stressige Rudern trotzdem so fasziniert? „Keine Ahnung, ich hab eben gemerkt, dass es passt, dass ich das kann und ja, jetzt ruder‘ ich eben und außerdem bin ich gar nichts anderes gewöhnt“, erzählt er. Etwas detaillierter geht die Geschichte so: Geboren in Osnabrück, kam Jan Tebrügge dort irgendwann auf das berüchtigte Ruder-Gymnasium Carolinum. Dort gibt es eine Ruder-AG und jeder, der was auf sich hält, ist dabei. In der AG fängt man an, dann geht es zum Osnabrücker Ruderverein, es folgen die obligatorischen Teilnahmen bei Jugend trainiert für Olympia, Regatten und Wettkämpfen.

Nach dem Abitur kam die Entscheidung: Statt Blutkonserven durch die Gegend zu fahren, machte Jan Tebrügge Zivildienst beim Ruderverband. Ein Teil der Arbeit bestand darin, schwer erziehbare Jugendliche in Münster fürs Rudern zu begeistern. „Da hatte ich allerdings wenig Erfolg“, sagt Tebrügge. Der andere Teil war Training, mit eindeutig mehr Erfolg. So viel Erfolg, dass er nach dem Zivildienst die Pendelei zwischen Osnabrück, Münster und Dortmund aufgab und ganz in die Ruhrmetropole zog.

Die Wohnung finanziert er sich durch die bescheidenen Zuschüsse vom Ruderverband und das ein oder andere Preisgeld. Wirklich reich wird man durchs Rudern nicht. Selbst die Trainingslager müssen privat bezuschusst werden. Denn für eine Sportart, die in den Massenmedien pro Jahr eine Präsenz von höchstens einer Stunde hat, lassen sich schwer Sponsoren finden. Über die Zukunft hat sich Jan Tebrügge bisher noch keine Gedanken gemacht. „Irgendwas Wissenschaftliches mach ich vielleicht“, sagt er und kaut auf einem weiteren Lebkuchen herum. „Aber erstmal ruder ich weiter, mindestens bis Olympia 2008.“