Ein Beitritt auf Raten

Im Januar wird Rumänien in die EU aufgenommen. Das war eine richtige Entscheidung. Denn im Land selbst hat sie schon für einen beispiellosen Modernisierungsschub gesorgt

Die Infrastruktur ist marode, die Landwirtschaft museal. Doch die EU-Aufnahme ist kein wohltätiger AktKein anderes Beitrittsland hat mehr Fristen für den Übergang, keines mehr Kontroll-Auflagen erhalten

Gedeih oder Verderb, Untergang oder Überleben – in keinem anderen osteuropäischen Land wurde die Frage des EU-Beitritts von der politischen Elite so sehr zugespitzt wie in Rumänien. Es ging um nichts weniger als um die Frage nach dem weiteren historischen Schicksal des Landes. Darum, ob es ein vergessener, obskurer, wirtschaftlich und kulturell dahinsiechender Staat an der Peripherie eines Kontinents bleibt oder nicht. Nun ist es so weit: Das „Sorgenkind“ Europas, eines der ärmsten und rückständigsten Länder des Kontinents, wird ab Januar einem der exklusivsten Clubs auf diesem Planeten angehören – der Europäischen Union.

Während die Rumänen sich nun endlich akzeptiert fühlen, sind die meisten Menschen in den Alt-EU-Ländern schlicht entsetzt über das neue Clubmitglied. Rumänien scheint ein Land halb wie Dracula, halb wie Ceaușescu, ein Land voller Korruption, Kriminalität, Armut und Verwahrlosung. Ein Land, das, selbst wenn man sich vor ihm schützen kann, so doch zumindest eines ist: ein Fass ohne Boden für viele Euro-Milliarden. Besonders groß sind die Vorbehalte hierzulande. Erst vor wenigen Wochen stimmten Bundestag und Bundesrat für den EU-Beitritt Rumäniens – nur unter Bauchschmerzen und als letztes von allen Parlamenten der EU-Mitgliedsländer.

Zweifellos: Rumänien ist auf die EU nicht wirklich gut vorbereitet. Das geben selbst alle ernstzunehmenden rumänischen Politiker zu, bis hin zum rumänischen Staatspräsidenten Traian Băsescu. Die Brüsseler Komission attestiert dem Land in vielen Bereichen erhebliche Mängel und rechnet nicht mit kurzfristiger Beseitigung. Rumänien dennoch aufzunehmen, war vielmehr eine politische Entscheidung der EU, geschuldet der anhaltenden Instabilität und prekären Sicherheitslage in Südosteuropa und auf dem Balkan.

War es auch eine richtige politische Entscheidung? Die Antwort ist: Ja. Zumindest wenn man auf die bisherige postkommunistische Entwicklung Rumäniens zurückblickt. Der vor über zehn Jahren begonnene Integrationsprozess hat in Rumänien einen grundlegenden Modernisierungsschub in Gang gesetzt, der in der Geschichte des Landes beispiellos ist. Nie zuvor gab es in so kurzer Zeit so viele tief greifende Reformen. Ohne den Wegweiser und Ordnungsfaktor EU, ohne ihre Aufsicht und Anleitung, ohne den Druck, die Bedingungen einer Mitgliedschaft erfüllen zu müssen, hätte es diese Reformen nicht gegeben.

Mehr noch: Niemand aus der politischen Elite Rumäniens, weder eine politische Kraft noch ein einzelner Politiker, hatte nach dem Sturz der Diktatur ein rationales und kohärentes politisches Zukunftsprojekt für das Land anzubieten. Die EU hat dieses Vakuum ausgefüllt und Rumänien so eine politische Richtung und ein politisches Ziel gegeben. Glücklicherweise. Ansonsten hätte das Land leicht abgleiten können in dauerhaftes Chaos oder sogar in einen Bürgerkrieg. Nahe genug daran war Rumänien mehrfach, etwa bei den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Rumänen und ungarischer Minderheit im März 1990 oder während des Bergarbeiteraufstandes im Januar und Februar 1999.

Natürlich: In einzelnen Bereichen wird es noch Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern, bis Rumänien alle politisch-administrativen Kriterien erfüllt und EU-Vorschriften vollständig umgesetzt hat. Große Mängel gibt es zum Beispiel beim Kampf gegen Korruption und Wirtschaftskriminalität. Bei der Gesetzgebung, im Justizwesen und in der Verwaltung muss mehr Transparenz durchgesetzt werden. Die Infrastruktur des Landes ist marode, Umweltschutz oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Landwirtschaft, in der ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet, wirkt museal, und rumänische Unternehmen können mit dem Preis- und Qualitätsniveau wie auch mit der Arbeitsproduktivität von EU-Firmen nicht mithalten.

Um Rumänien die Integration zu erleichtern, gewährt die EU dem Land insgesamt 50 Übergangsfristen für verschiedene Bereiche, in denen EU-Vorschriften erst schrittweise eingeführt werden müssen. Kein anderes der 12 Länder, die nach 2004 beigetreten sind, hat mehr Fristen erhalten. Sie sind vor allem für die Bereiche Landwirtschaft und Umwelt vorgesehen. So muss Rumänien bei der Abwasserreinigung erst 2019 EU-Standards erfüllen, bei der Trinkwasseraufbereitung betragen die Fristen zwischen vier und neun Jahren, für Schadstoffminderung in der Industrie, Müllentsorgung und Recycling sind Übergangsfristen zwischen einem und 12 Jahren vorgesehen. Zudem erhielt und erhält Rumänien Milliarden-Beihilfen aus Brüssel. Aus den Vorbeitrittsfonds (Phare, Ispa, Sapard u. a.) bekam es neben Polen am meisten Geld, bis 2006 rund sieben Milliarden Euro. Für die Jahre 2007 bis 2013 sind rund 29 Milliarden Euro Finanzhilfe für Rumänien vorgesehen, vor allem aus den Struktur- und Agrarfonds.

Das alles hört sich nach rücksichtsvoller und großzügiger Behandlung an. Doch das ist es höchstens teilweise. Für den Fall, dass Rumänien Fristen nicht einhält, hat sich die EU mit strengen Kontroll- und Strafmechanismen abgesichert – den strengsten, die es je für ein Neumitglied gab. Sie sind so streng, dass manche Rumäniens EU-Beitritt als eine „Zweite-Klasse-Mitgliedschaft“ kritisieren.

Auch ansonsten ist Rumäniens EU-Aufnahme kein Akt reiner Selbstlosigkeit. Schon jetzt profitieren von den seit Jahren schrittweise fallenden Zollschranken vor allem Unternehmen aus der Alt-EU, denn die meisten rumänischen Unternehmen können mit der ausländischen Konkurrenz nicht mithalten. Auch die EU-Milliarden aus Brüssel – die ohnehin nur einen winzigen Bruchteil des jährlichen EU-Haushaltes ausmachen – fließen großenteils wieder zurück in die entwickelteren EU-Länder wie Deutschland, denn bei vielen Projekten, mit denen Infrastruktur und Wirtschaft in Rumänien modernisiert werden, kommen die Berater, Dienstleister und Ausrüster aus den alten EU-Ländern zum Zug. Rumänien hat sich also seinen sehnlichen Wunsch, endlich zum exklusiven Klub zu gehören, nicht leicht und nicht billig erkaufen können.

Noch sind die Zustimmungsraten zur EU in Rumänien mit die höchsten unter allen Mitgliedsländern. Doch langsam macht sich auch in Rumänien Europa-Skepsis breit. Das mag daran liegen, dass rumänische Politiker, vor allem Băsescu, ihre Landsleute in den letzten Monaten nahezu pausenlos gewarnt haben, den EU-Beitritt nicht mit der Ankunft im Paradies zu verwechseln. Rumänien wird den Tag des Beitritts mit großen offiziellen Feiern überall im Land begehen. Bald aber wird der bisher noch verklärte Blick vieler Rumänen auf Europa einer deutlichen Ernüchterung weichen – so wie es auch in anderen neuen Mitgliedsländern der Fall war, etwa in Ungarn oder Tschechien.

Und das ist auch gut so. Denn erst dann werden die Rumänen wirklich dazugehören – selbstbewusst, gewachsen, auf gleicher Augenhöhe. So wie sie es sich gewünscht haben. KENO VERSECK