Der Mensch als Material

KOLONIALISMUS Auch im Südpazifik gaben die deutschen Kolonialtruppen kein Pardon. Das Buch „Rebellion in der Südsee“ erinnert an den vergessenen Aufstand der Sokeh 1910/1911

Am Vorabend des 1. Weltkrieges wurden zwölf Millionen Menschen von Deutschland beherrscht

VON SEBASTIAN BISCHOFF

Lange fristete die deutsche Kolonialpolitik in Öffentlichkeit und Wissenschaft ein Schattendasein, ihre Bearbeitung war der Initiative von People of Color und kritischen HistorikerInnen vorbehalten. Vor allem mit den Jahrestagen der brutalen Niederschlagung der Aufstände der chinesischen Boxer (1900) wie der afrikanischen Herero und Nama (1904/05) hat sich das geändert. Ein Buch des Essener Historikers Thomas Morlang will die deutsche Kolonialherrschaft im Pazifik, den Aufstand der Sokeh 1910/11 und seine brutale Niederschlagung dem Vergessen entreißen.

1899 hatte der deutsche Außenstaatssekretär Bernhard Bülow dem Reichstag versprochen, mit dem „bildsamen Menschenmaterial“ in der Südsee in „humaner Weise“ umgehen zu wollen. Einen „Platz an der Sonne“ benötige das Reich, hatte der neue Mann im Auswärtigen Amt erklärt. Darum sollten die Inselgruppen der Karolinen und Marianen – heute ein Teil der Föderierten Staaten von Mikronesien –, Spanien abgekauft werden und das deutsche Kolonialreich im Pazifik komplettieren. Ein Jahr vorher war bereits das nordchinesische Kiautschou „gepachtet“ worden. Seit 1884 hatte das Deutsche Reich das heutige Togo, Kamerun, Namibia, Burundi, den Großteil des heutigen Tansanias, mehrere weitere Teile heutiger afrikanischer Staaten sowie einige polynesische Archipele zu deutschen „Schutzgebieten“ erklärt. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges wurden zwölf Millionen Menschen von Deutschland beherrscht, das war an unterworfener Bevölkerung das fünftgrößte, an Fläche sogar das drittgrößte Kolonialreich.

Die sozialdemokratische Kritik am Vorgehen des Reichs fiel zahm aus: In seiner Antwort auf die Rede Bülows erklärte Wilhelm Liebknecht, es handle sich um „Ramsch“: Zu teuer und ohne Ertrag für das Deutsche Reich seien diese von „ganz und halb wilden“ Bevölkerungen besiedelten „Landbröckchen“, keineswegs verbessere sich so die Stellung des Reichs. Mit dieser Kritik bot Wilhelm Liebknecht nicht gerade eine Sternstunde des proletarischen Internationalismus.

Die Inseln im Pazifik blieben, wie fast alle deutschen Kolonien, ein Zuschussgeschäft. Deswegen, aber wohl auch aus Prinzip versuchten die deutschen Kolonialherren alles, um die Bevölkerung zum „Arbeiten“ zu bringen. Soll heißen: Statt nur für ihren eigenen Lebensunterhalt zu wirtschaften, sollten sie sich für die deutschen Plantagenbesitzer und damit für das deutsche Kolonialreich nützlich machen. Doch die deutschen Machtmittel waren begrenzt. An die erhoffte Plantagenwirtschaft von Kokosnüssen, aus denen Kopra, der wichtigste Handelsartikel der Südsee, gewonnen werden sollte, war so nicht zu denken.

Auf Ponape (heute Pohnpei), einer Insel von der Größe des Stadtstaats Bremen, kam es über die Frage der Arbeitspflicht wie auch die drakonischen Strafen immer wieder zu Auseinandersetzungen. So auch am 17. Oktober 1910, als Nan Ponpei Maluk, ein Angehöriger der Bevölkerungsgruppe der Sokeh, bei Straßenbauarbeiten den Anweisungen des deutschen Aufsehers nicht nachkam und dafür ausgepeitscht wurde. Aus Protest legten die Sokeh die Arbeit nieder und töteten fünf Mikronesier, die für die Kolonialmacht arbeiteten, sowie vier deutsche Kolonialbeamte. Darunter auch den Bezirksamtsmann Gustav Boeder, der die Strafen eingeführt hatte.

Die anschließenden Kämpfe sollten vier Monate dauern, 800 Soldaten kämpften unter Einsatz von vier Kriegsschiffen bei dieser größten deutschen Militäraktion in der Südsee gegen die mit veralteten Gewehren und Messern bewaffneten Sokeh. Die Truppen wandten die vorher in zahlreichen anderen Kolonialkriegen erprobte Taktik der „verbrannten Erde“ an. Ein Offizier der Strafexpedition schrieb später in seinen Erinnerungen, die im damaligen Klima als heroisches Zeugnis galten: „Wisst ihr noch, wie wir sengend und brennend durch das blühende Land zogen, wehende Rauchsäulen verbrennender Dörfer als Wegweiser des Tages, als leuchtende Fackel des Nachts?“ Als die letzten Rebellen kapitulierten, war die halbe Insel zerstört. 17 Männer wurden ohne Verteidigung zum Tode verurteilt. Alle rund 430 Sokeh wurden auf eine mehrere tausend Kilometer entfernte Insel deportiert und die Männer zur Zwangsarbeit in Phosphatminen verpflichtet.

Eine weitere blutige Episode der deutschen Kolonialgeschichte also, die Thomas Morlang nicht als Erster beschreibt, aber doch mit einer kompakten und mit vielen Bildern illustrierten Einführung einem größeren Publikum eröffnet. Nicht immer durchbricht Morlang die koloniale Perspektive, wo er etwa eine Zeitspanne ohne geregelte deutsche Herrschaft schon mal für eine „Phase des Stillstands“ hält oder die Ankunft eines gefechtsbereiten deutschen Kreuzers „allgemeine Erleichterung“ verursachte. Dennoch bleibt es das Verdienst des gut lesbaren Buchs, an das Aufbegehren der Sokeh zu erinnern. Denn der Mythos von der eigentlich gutmütigen deutschen Kolonialherrschaft, die „human“ mit ihrem „Menschenmaterial“ umging, hält sich bis heute.

■ Thomas Morlang: „Rebellion in der Südsee. Der Aufstand auf Ponape gegen die deutschen Kolonialherren 1910/11“. Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 200 Seiten, 24,90 Euro