„Journalisten müssen ihr Gehirn einschalten“

BERUFSETHOS Johannes Ludwig, seit 14 Jahren Professor für Medien und journalistische Fächer in Hamburg, geht in Pension. Der Experte für investigativen Journalismus hat mal einen Bausenator gestürzt

■ 65, ist seit 2000 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg und geht in drei Monaten in Pension. Er unterrichtet Medienbetriebswirtschaft und Kommunikationstheorie. 2002 erschien sein Lehrbuch „Investigativer Journalismus“. Als Freelancer war er für diverse Medien tätig, darunter Stern, Zeit, Wirtschaftswoche, NDR und Spiegel-TV. 2004 hat er das Projekt „Dokumentationszentrum Couragierte Recherchen und Reportagen“ initiiert: www.anstageslicht.de. Er betreut die Webseiten www.whistleblowerinfo.de sowie www.recherchieren.org.

INTERVIEW AMADEUS ULRICH

taz: Herr Ludwig, welche journalistische Recherche der letzten Zeit hat Ihnen am meisten imponiert?

Johannes Ludwig: Die Redakteurin Angela Böhm ist über einen Satz in dem Buch „Die Selbstbediener“ gestolpert, in dem es um bayrische Landtagsabgeordnete geht. Darin heißt es, dass sich Politiker theoretisch an der Landeskasse selbst bedienen können. Daraufhin hat sie sich gefragt: Ist das wirklich so? Und ist auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Es hat sich herausgestellt, dass viele Abgeordnete ihre Ehefrauen beschäftigen; einer hatte sogar seine minderjährigen Kinder angestellt. Die Redakteurin hat so intensiv recherchiert, dass sogar der Buchautor, ein Experte auf dem Gebiet, erstaunt war.

Diese Geschichte hinter der Geschichte erzählen: Das ist das Ziel Ihres zehnjährigen Projekts Dok-Zentrum. Erzählen Sie davon.

Der Anlass war mein Buch „Investigativer Journalismus“. Darin wollte ich eine Geschichte besprechen, die den Wächterpreis gewonnen hat. Doch war sie kaum aufzutreiben. Erst nach acht Wochen bin ich an eine Fotokopie gelangt. Ich war verdutzt, dass solche Berichte im Archiv einer Zeitung verschwinden. Da kam mir die Idee, dass sie in die Öffentlichkeit gehören. Ich habe mich mit einem Kollegen ausgetauscht, die Hochschule überzeugt – und dann hat sich die Internetseite www.anstageslicht.de schnell etabliert, die ich mit Studenten betreue.

Was machen Sie?

Wir dokumentieren Geschichten, über die niemand anderes schreibt, schauen uns an, wie sie entstanden sind, wer daran beteiligt war. Wir verstehen uns als öffentliches Gedächtnis und versuchen den Lesern klarzumachen, dass diese Geschichten nur durch Menschen entstehen können. Wir animieren die Leute: Wenn ihr was habt, greift zum Telefon, schickt eine E-Mail, gebt eure Informationen an Medien weiter! Je mehr das machen, desto transparenter wird die Welt. Es gäbe viel zu erzählen.

Sie gelten als Experte für investigativen Journalismus. Wie ist es um ihn in Deutschland bestellt?

Es gibt Auf und Abs; es handelt sich aber nicht um einen abnehmenden Bereich. Wenn ich mir die Geschichten anschaue, die für den Wächterpreis eingereicht werden, bin ich begeistert, was recherchiert wird – und das in der Lokalpresse! Es gibt viele Veröffentlichungen, wo sich ein Journalist als hartnäckig erwiesen, einen Vorgang lange begleitet und eine Veränderung bewirkt hat.

Aber investigative Recherchen kosten viel Geld und Zeit. Dinge, die ein Lokaljournalist für gewöhnlich nicht hat.

Es ist eine Entscheidung, die jede Redaktion, jeder Verlag treffen muss: Ist uns das wichtig oder nicht? Wenn man sich die Absatzzahlen anschaut, sieht man: Spannende Geschichten finden ihr Publikum. Sie müssen auch nicht zwangsläufig investigativ sein. Journalisten sollen zeigen, welche Auswirkungen bestimmte Begebenheiten auf unser Leben haben. Wenn’s um die Bankenrettung in der EU geht, schaffen es wenige, vorzurechnen: Was heißt das für die Bürger? Das gelingt nur durch Recherche, dem Grundpfeiler des Journalismus. Investigativ wird er dann, wenn mehr Aufwand betrieben werden muss. Es gibt vieles, das verborgen bleibt. Daran zu kommen, ist schwierig. Man muss sich überlegen, wie trickse ich als Journalist, der wenig Zeit, Geld und Ressourcen hat, diejenigen mit mehr Macht, Geld und Zeit aus?

Wie denn?

Indem man sein Gehirn einschaltet, Widersprüche erkennt, sagt, da stimmt etwas nicht und sich dann fragt: Wie komme ich an die nötigen Informationen?

Schalten genügend Journalisten hierzulande ihr Gehirn ein?

Dafür braucht man vor allem Zeit, Ruhe und Abstand. Journalisten, die einem täglichen Produktionsstress ausgesetzt sind, haben diese Möglichkeit oft nicht. Aufgrund der Arbeitshektik findet das zu wenig statt.

Lassen sich Leser, die online ihre Nachrichten konsumieren, für lange, investigative Geschichten begeistern?

Sicher. Dieser Glaube, dass sich Leute nicht für lange Geschichten interessieren, ist seit jeher ein Streitthema. In den 90ern haben Printmacher das stark diskutiert. Das war die Zeit, als das Magazin Geo groß geworden ist. Denen geht’s heute prächtig – besser als dem Stern, der kürzere Berichte hat, denen oft die Substanz fehlt, und wo die Leute sich nach der Lektüre fragen: Das war nett, Fast Food, aber man kann’s nicht verdauen. Es gibt ein anderes Problem, das mit der Digitalisierung zusammenhängt. Bei Leuten, die nur mit dem Smartphone arbeiten, besteht die Gefahr, dass sie die Welt nur noch gefiltert wahrnehmen.

In Ihrem Lehrbuch „Investigativer Journalismus“ schreiben sie, dass auch die Recherche im Internet problematisch sei. Inwiefern?

Zunächst weil im Netz nicht alles ist, was man sucht. Wenn Sie mit einer Suchmaschine recherchieren, arbeitet die nach Algorithmen. Wenn Sie bei Google etwas eingeben, kriegen Sie Millionen Treffer. Sie haben verloren, wenn Sie nicht mehr drüber nachdenken, dass das, was sie suchen, eher nicht online zu finden ist. Ein Rechercheur muss entscheiden, welchen Weg er geht, und ihn sich nicht von einem mathematischen Algorithmus ebnen lassen.

Heute wird Nachwuchsjournalisten geraten: Nutzt das Netz, twittert, postet, bloggt! Bleibt bei diesem autochthonen Internetwahn die Kernkompetenz des Journalisten, die Offline-Recherche, nicht auf der Strecke?

Das glaube ich nicht. Eine Studentin von mir hat jüngst eine Bachelor-Arbeit geschrieben, in der sie die Wächterpreis-Träger der letzten zehn Jahre befragt hat, wie viel Zeit sie für Recherche investieren. Es ist immer noch ein beachtlicher Anteil, obgleich viele mit sozialen Medien arbeiten. Wer seinen Job allerdings ernst nimmt, hat keine Zeit für Twitter. Höchstens, um die fertige Geschichte zu posten.

Wie wird sich der Journalismus in Zukunft verändern?

Das weiß niemand. Viele fragen sich, wie diese neuen Technologien optimal für Geschichten eingesetzt werden können. Ein paar Fragen sind zentral: Wer sind meine Leser? Will ich sie nur mit News füttern oder will ich sie mit Themen konfrontieren, die sie was angehen? Und: Wie kriege ich den Wandel bezahlt? Es gibt den Begriff der Umsonst-Mentalität im Internet. Das ist ein Riesenproblem, weil die Medien nie thematisiert haben, wie aufwendig es ist, qualitativ hochwertigen Journalismus zu betreiben.

Sie haben von 1985 bis 92 als freier Journalist gearbeitet. Was war ihre größte investigative Recherche?

Ich habe einen Berliner Bausenator zum Rücktritt gezwungen. Damals ging es in der Branche drunter und drüber. Berlin war eine abgekapselte Welt. Die Bauwirtschaft hat seltsame Blüten getrieben, viel Geld ist in unredliche Kanäle geflossen. Ich hatte einen anonymen Tipp bekommen, dass der Bausenator eine Eigentumswohnung geschenkt bekommen hat. Es ging um die Übereignung einer Immobilie. Mein Ziel war, dies zu beweisen. Also habe ich mich gefragt: Wer könnte sich darüber ärgern, wie das mit der Immobilie gelaufen ist? Ich habe dann alle potenziell Beteiligten abtelefoniert, bis einer sagte, er könne mir helfen. So kam ich an die nötigen Beweise.

Dennoch haben Sie die Freiberuflichkeit an den Nagel gehängt und sind wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin geworden. Wieso?

Die Jahre als freier Journalist waren anstrengend, die Arbeit hat sich nicht gerechnet. Langwierige, komplexe Geschichten kann man als Freier kaum machen. Meist arbeiten Sie alleine, kämpfen gegen Goliath, der mehr Geld, Mittel und Power hat. Es hat mich dann gereizt, mein Wissen an andere weiterzugeben, also bin ich an die FU in die Journalistenweiterbildung gegangen.

Wie sind Sie zu einem Experten für investigativen Journalismus geworden?

An der FU war ich fünf Jahre, dann habe ich promoviert und mich gefragt: Wie funktioniert es als Freier ökonomisch, wenn man solche Geschichten macht? Wie finanzieren sich Medien? So habe ich nach Hamburg gefunden, wo ich als Medienökonom eingestellt worden bin im Jahre 2000. Nun hatte ich Zeit, und als Beamter das nötige Geld – eine angenehme Sache. Ich dachte mir: Jetzt weißte eine Menge, das schreibst du runter. So ist mein Buch „Investigativer Journalismus“ entstanden.

Was raten Sie jungen Journalisten, die zwar investigativ arbeiten möchten, aber Angst vor der Zukunft haben?

Seid mutig, hartnäckig und neugierig! Es wird immer offensichtlicher, wie verrückt unsere Welt ist. Man bedenke allein die NSA-Affäre. Gucken Sie mal, wo die ganzen Gelder versacken, es schwappen um den Erdball Massen, die sich jeder Besteuerung entziehen. Die Sensibilität für bestimmte Themen wird größer. Es gibt so viel, das im Argen liegt – die Aufgaben sind unendlich. Eigentlich müsste die zehnfache Menge Journalismus studieren, um alles zu entlarven, was in dieser Welt passiert.

Nach 14 Jahren an der HAW gehen Sie in Pension. Und nun?

Arbeite ich von zu Hause aus und führe das Dok-Zentrum weiter. Aber ich beginne, das in andere Hände zu geben, um eines Tages, wenn ich eine Insel finde im Mittelmeer, wo man gekühlten Campari trinken und die Beine ins Wasser hängen kann, mich zur Ruhe zu setzen. Das kommt irgendwann. Aber nicht morgen, und nicht so schnell. Das ist mein Langzeitprojekt.