Das Extreme ist die Normalität

KONGO Der Schweizer Naturschützer Carlos Schuler legt nach 25 Jahren im ostkongolesischen Kriegsgebiet seine Memoiren als „Augenzeuge einer wahnsinnigen Zeit“ vor. Ein einmaliger Einblick von innen

Der Kongo gilt als Ort der Entgrenzung. Im Herzen der Finsternis kann das Leben nur der permanente Ausnahmezustand sein, voller Extreme. Aber wer im Kongo nicht nur das Grauen sucht, kennt eine andere Seite: das Leben im Alltag – und eben voller Menschen, die nicht anders ticken als anderswo.

Der 58-jährige Schweizer Carlos Schuler lebt seit 1988 in Bukavu, einer der großen Städte Ostkongos, Epizentrum der Kriege der Region. Er hat als Partner der Naturschutzbehörde ICCN im Kahuzi-Biega-Nationalpark, Refugium seltener Flachlandgorillas, diese Kriege überlebt. 25 Jahre hat es gedauert, bis er seine Erinnerungen, mit denen man ganze Tribunale beschäftigen könnte, in eine lesbare Form gegossen hat, mithilfe seines Freundes Erich Herger. Der wuchtige Wälzer ist anders als jedes von außen geschriebene Kongo-Buch: Er beschreibt das Extreme als Normalität, in der Lebenswege reifen und das Zwischenmenschliche das Wichtigste ist.

„Wer sich korrekt verhalten will“, schreibt Schuler schon früh, „schwimmt gegen den Strom.“ Die übliche Analyse, wonach der Kongo mit dem ersten Einmarsch Ruandas 1996 ins Chaos stürzte und seit Friedensschluss 2003 allmählich wieder Ordnung entsteht, kehrt Schuler um. Schon Anfang der 1990er Jahre war eine Zeit der Wirren und Gerüchte, in der niemand weiß, was woanders geschieht.

Die Ära der ruandischen Besatzung ab 1996 und der von Ruanda unterstützten Rebellenregimen bis 2003 erlebt Schuler als Zeit, in der alle im Ostkongo auf sich selbst zurückgeworfen sind. In dieser Zeit schafft Schuler es mit seinen ICCN-Freunden auf pragmatische Weise, den Nationalpark und den Gorillaschutz zu organisieren. Das entspricht nicht immer den Regularien der deutschen GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit), für die er das Projekt leitet. Aber es funktioniert. Obwohl: „Viele Menschen werden unehrlich, falsch und eifersüchtig. Vertrauen wird missbraucht, ja kann zum Verhängnis werden.“

Ab 2002 bricht die Kriegsordnung zusammen. Mit Ruandas Abzug geht der Park manchmal zu 100 Prozent verloren, schreibt Schuler; mit der Autorität des fernen Kinshasa kommen die Intrigen. „Wir waren da – jetzt sagen uns andere, was wir tun sollten“, resümiert Schuler, als er 2008 abgesetzt wird.

Jeder, der diesem wunderschönen Flecken Erde ein Stück seines Lebens gewidmet hat, kann Schulers Bilanz seiner Arbeit voll unterschreiben. „Im schlimmsten Krieg haben wir die Wilderei eindämmen können. Wir haben mit vielen und sehr verschiedenen Kriegsführern verhandelt und meistens eine Lösung finden können. Jetzt ist der Kongo wieder vereint, aber die konstruktive Zusammenarbeit ist eingebrochen. Von den internationalen Hilfsorganisationen können wir wenig Unterstützung erwarten. Erfahrungsgemäß beschönigen sie jeweils komplizierte Situationen und Kritik gegenüber dem nationalen Partner. Es fehlt am Mut.“ Schulers Buch ist aber keine theoretische Abhandlung, sondern ein unbändiges Kompendium von Eindrücken einer „wahnsinnigen Zeit“.

Diese Zeit ist vorbei. Heute leitet Carlos Schuler in Bukavu das Hotel Lodge Co-Co; seine Frau Christine Schuler Deschryver setzt sich für vergewaltigte Frauen ein. Bukavu ist wieder laut und selbstbewusst. Aber, und das zeigt uns Schuler, hinter den Kulissen verbirgt sich bleibende Lebenserfahrung, die nicht als Verirrung aus dem Gedächtnis zu löschen ist. DOMINIC JOHNSON

 Carlos Schuler: „Leben und Überleben im Kongo. Gorillaschutz und Familenleben im Krieg“. BfT Verlag, Altdorf 2014, 512 S., 59 CHF