Verdrängte Hausmarke Contergan


VON CHRISTIANE MARTIN

Wenn die Unternehmenssprecherin des Pharmaherstellers Grünenthal von den Jahren 1957 bis 1961 erzählt, spricht sie von einer „Tragödie“. Es waren die Jahre, in denen die Firma aus Stolberg bei Aachen das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan vertrieb. „Schrecklich war das, aber nicht absehbar“, sagt Annette Fusenig und meint die mehreren tausend Kinder, die damals mit schweren Missbildungen zur Welt kamen, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten. „Ein tragisches Unglück, für das niemand etwas kann.“

Doch was für die eine Seite eine Tragödie ist, ist für viele Betroffene ein Skandal. Die Firma Grünenthal habe Contergan verkauft, obwohl es von den verheerenden Nebenwirkungen wusste, und die Opfer seien bis heute nicht ausreichend entschädigt. So jedenfalls sieht es Andreas Meyer, selbst Contergangeschädigter und Vorsitzender der Föderation Conterganbehinderter und ihrer Freunde.

Diese unterschiedlichen Lesarten der Geschichte erregen nun erneut die Gemüter, denn der WDR hat einen zweiteiligen Fernsehfilm mit dem Titel „Eine einzige Tablette“ gedreht, der die Geschichte um Contergan in Szene setzt – historisch korrekt, wie der Sender betont. Dennoch hat die Firma Grünenthal eine einstweilige Verfügung gegen den Film erwirkt. „Wir können einen Unterhaltungsfilm nicht akzeptieren, der Realität und Fiktion in unzulässiger Weise vermischt und Falschaussagen verbreitet“, so Grünenthal-Geschäftsführer Sebastian Wirtz. Er beanstandet 15 Szenen, die seiner Meinung nach historisch nicht richtig wiedergegeben sind, und fürchtet um den guten Ruf der Firma. Auch wenn seine Unternehmenssprecherin darauf hinweist, dass man Contergan in der Firmenhistorie keineswegs verschweige, liegt es auf der Hand: Wirtz kann sich glücklich schätzen. In der Öffentlichkeit denkt kaum einer mehr daran, dass es sein Unternehmen war, das in einen der größten Arzneimittel–skandale verwickelt war.

„Schandfleck“ Contergan

Heute gilt Grünenthal als Spezialist für Schmerzmittel, stellt so bekannte Marken wie Tramal her und hat mehrere Antibabypillen auf dem Markt. Im Jahr 2005 machte das Unternehmen 777 Millionen Euro Umsatz. Es gehört seit seiner Gründung 1946 der Familie Wirtz, die auch die Seifenfirma Dalli besitzt, mit dem Produkt Tandil. Außerdem betreibt die Familie das Parfümerieunternehmen Mäurer & Wirtz, das jüngst 4711 aufgekauft hat. Der „Schandfleck“ Contergan macht sich nicht gut auf der ansonsten weißen Weste des Familienunternehmens. Eine Ausstrahlung des WDR-Fernsehfilms von Regisseur Adolf Winkelmann, der in einer Reihe mit Fernseherfolgen wie „Das Wunder von Lengede“ gesehen wird, würde mit Sicherheit Erinnerungen wach rufen.

Dennoch stellt Grünenthal immer wieder klar, dass es nicht darum geht, den Film zu verhindern. Lediglich die beanstandeten Szenen müssten entfernt oder verändert werden. „Alle Grünenthal betreffenden Darstellungen im Film sind historisch belegt“, sagt dazu Michael Souvignier, Geschäftsführer bei Zeitsprung, der Firma, die den Film für den WDR produziert hat. Zeitsprung und der WDR haben deshalb nun auch Berufung gegen die einstweilige Verfügung eingelegt. Für die historische Korrektheit des Films sollen Beweise aus der Anklageschrift des Conterganprozesses bürgen.

Demnach hat das Unternehmen Grünenthal 1957 das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan auf den Markt gebracht, ohne vorher zu untersuchen, wie das Mittel auf Schwangere und Ungeborene wirkt. „Das damalige Arzneimittelgesetz schrieb keine Routinetests an trächtigen Tieren vor“, erklärt die Grünenthal-Sprecherin. Das Mittel wurde trotzdem als besonders geeignet für Schwangere beworben und rezeptfrei abgegeben. Anfang des Jahres 1961 wurde gegenüber Grünenthal zum ersten Mal der Verdacht geäußert, dass Contergan die Plazentaschranke überwinden und das Ungeborene schädigen könnte. Eine entsprechende Anfrage mit dem Hinweis auf Forschungsergebnisse eines Dr. Stevensen lag Grünenthal damals schriftlich vor.

Dies nennt das Unternehmen heute einen viel zu vagen Verdacht, der nicht nachvollziehbar gewesen sei. Contergan wurde weiter vertrieben und hatte sich zu einer Haupteinnahmequelle des Unternehmens entwickelt. Erst als im November 1961 der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz ebenfalls den Verdacht äußerte, es gäbe einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Contergan und Missbildungen bei Ungeborenen und als kurz darauf ein Zeitungsartikel darüber erschien, nahm Grünenthal Contergan vom Markt. „Aus lauter Profitsucht hat man viel zu lange gezögert“, sagt der Contergangeschädigte Meyer. „Sofort nachdem der erste ernstzunehmende Verdacht aufkam, wurde reagiert“, sagt Grünenthal-Sprecherin Fusenig.

Spielfilm oder Doku?

Bei so unterschiedlicher Geschichtsauslegung klingt das Versprechen historischer Korrektheit des Filmproduzenten Souvignier geradezu verheißungsvoll. Den zeitlichen Ablauf der Ereignisse bis Contergan vom Markt genommen wurde, stellt der Film laut Souvignier so dar: Ein Angestellter tritt in den Kreis der Geschäftsführung und teilt mit, dass ein Schreiben vorliege, in dem ein Arzt anfragt, ob Contergan die Plazentaschranke überwindet, weil er Einwirkungen auf Ungeborene befürchtet. In einer folgenden Szene sind im Hintergrund Nachrichten zu hören, die vom Bau der Mauer im August 1961 berichten. Erst später im Film nimmt Grünenthal Contergan vom Markt.

Dem aufmerksamen und geschichtskundigen Zuschauer dürfte damit klar sein, dass dies mehrere Monate gedauert hat. Souvignier will sich dabei im Film auf Dr. Stevensen beziehen. Grünenthal sagt, es sei eindeutig, dass mit dem Arzt Widukind Lenz gemeint ist. Das ergebe sich aus dem Drehbuch, in dem von einem Hamburger Arzt die Rede sei, dessen Handlungen weitestgehend mit denen von Widukind Lenz übereinstimmen. Der sei aber erst im November, also nach dem Mauerbau, aufgetaucht. Was für Außenstehende kleinlich wirkt, ist für die Kontrahenten in der Auseinandersetzung um die wahre Geschichte existenziell: Die geschilderte Szene ist eine der beanstandeten. Und letztlich geht es dabei nicht um Fakten, sondern um deren Wirkung.

So hat das Hamburger Landgericht, das die Verfügung gegen den Film bereits im Juli letzten Jahres bestätigt hatte, in seiner Begründung gesagt, dass es sich zwar um einen Spielfilm handle, die Zuschauer aber nicht ausreichend zwischen Fiktion und Wahrheit unterscheiden könnten. Deshalb müsse das Werk wie ein Dokumentarfilm behandelt werden. Und damit sei jede Verfremdung eine Entstellung – und damit unzulässig.

Unterstützung bekommt Grünenthal in seiner Argumentation ausgerechnet von einem ehemaligen Gegner: Karl-Hermann Schulte-Hillen ist Vater eines Contergan-Kindes, hat als Rechtsanwalt im früheren Conterganprozess die Opfer vertreten und wehrt sich heute gemeinsam mit Grünenthal gegen den Film. Er erkennt sich in der Hauptfigur des Filmes wieder und sieht durch ungenaue Darstellungen sein Persönlichkeitsrecht verletzt. Auch er klagt gegen den Film. Andreas Meyer von der Conterganföderation wundert sich darüber nicht. „Es ist allgemein bekannt, dass Herr Schulte-Hillen eine enge Freundschaft mit einem ehemaligen Grünenthal-Justitiar pflegt.“ Für ihn gehört Schulte-Hillen schon lange zur falschen Seite. Er sei auch für den Ausgang des Prozesses mit verantwortlich.

Verhandelt wurde der Conterganfall von 1968 bis 1970 vor dem Landgericht Aachen. Auf der Anklagebank saßen Besitzer, Geschäftsführer und Angestellte der Firma Grünenthal, unter ihnen auch der damalige Forschungsleiter Heinrich Mückter. Der war während des Zweiten Weltkriegs Stabsarzt und stellvertretender Direktor des Instituts für Fleckfieber und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres in Krakau gewesen und nach dem Krieg wegen des Vorwurfs medizinischer Experimente an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern von der polnischen Justiz gesucht worden.

Gegen das Vergessen

Der Conterganprozess ging für Mückter und seine Kollegen glimpflich aus. Nachdem mit den Eltern der Contergan-Kinder ein Vergleich geschlossen worden war, wurde der Prozess wegen geringer Schuld eingestellt. Grünenthal hatte eine einmalige Zahlung von 100 Millionen Mark geboten, die Opfer verzichteten dafür auf jegliche weitere Schadensansprüche. „Grünenthal hat sich frei gekauft mit einer viel zu geringen Summe“, sagt Andreas Meyer dazu. Er und auch andere Contergangeschädigte leiden an Spätfolgen, die damals noch gar nicht absehbar waren. „Dafür kommt keiner auf“, so Meyer.

Grünenthal sieht das anders. „Der Prozess ist wegen geringer Schuld eingestellt worden. Grünenthal hat sich dennoch verantwortlich gefühlt und freiwillig diese hohe Summe für die Opfer bereitgestellt – mehr als das, was ein unabhängiger Gutachter als die maximal wirtschaftliche Belastbarkeit für das Unternehmen einstufte“, sagt Sprecherin Fusenig. Auch diese Darstellungen sind heute Gegenstand der Auseinandersetzung um den Film. Ein Film, der gemacht wurde, damit Contergan nicht in Vergessenheit gerät. So jedenfalls beschreibt Souvignier seine Motivation.

Doch auch seine Firma und der WDR sind keine Wohlfahrtseinrichtungen, sie müssen wirtschaftlich operieren. Und im Visier hatten beide auch die Einschaltquoten. Wird der Film, in dem Katharina Wackernagel eine der Hauptrollen spielt, nicht gesendet, sind fünf Millionen Euro in den Sand gesetzt, ein Teil davon aus staatlicher Förderung. Eine Entscheidung aus Hamburg wird in Kürze erwartet. Dann wird sich zeigen, ob aus Grünenthals Tragödie ein neuerlicher Skandal wird.