DU SOLLST NICHT TUNKEN
: Eine Horde winzigkleiner Zwerge

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Nach dem Schwimmen erhole ich mich in den terrassenförmig gestalteten Whirlpools in der Haupthalle des Spreewaldbads. Der Wasserstrahl massiert mir den Rücken, während ich neugierig die Zwerge im höher gelegenen Becken beobachte.

Es ist eine ganze Horde winzigkleiner Zwerge mit Schwimmflügeln, von einer einzigen Frau bewacht. Die hat natürlich alle Hände voll zu tun. Während sie die tobende Zwergenschar im Zaum hält, wirft sie mir misstrauische Blicke zu: Was glotzt der Mann so? Fehlt nur noch, dass sie knurrt. Sie kommt mir wie ein Hütehund vor, die Zwerge sind die Lämmchen, ich bin der Wolf. Ich kann ihr den Argwohn nicht verdenken: Allein vom Kraulstil einiger Kandidaten nebenan im Schwimmerbereich zu schließen, ist das Spreewaldbad ein Eldorado für irre Päderasten. Da empfiehlt es sich durchaus, wachsam zu sein. Wuff.

Noch dazu weiß ich leider, wie ich aussehe, nachdem ich mit Kontaktlinsen unter der Schwimmbrille achtzig Minuten lang durchs Chlorwasser gepaddelt bin. Manche Dinge wüsste ich wirklich lieber nicht und dieses gehört auf jeden Fall dazu. Böser Onkel Hilfsausdruck. Wäre ich die Betreuerin, hätte ich bei meinem Anblick schon längst die Polizei gerufen, oder besser gleich einen Exorzisten, ach was, ein ganzes Exorzistenteam mit Weihwasserkanone und einem zwölfteiligen Standardsatz silberner Pfähle. Aber vielleicht will sie die Kinder nicht beunruhigen.

Eines von ihnen muss sie jetzt ein bisschen anschreien: Rico, wie ich erfahre. Das ist ja ganz allerliebst. Gerührt blicke ich mit rot verquollenen Monsteraugen auf die Szene und huste ein wenig in mein Sprudelwasser. Zum Glück beachtet mich die Hütehündin gerade nicht. Sie hat mit Rico zu tun. Der hat versucht, einen anderen Zwerg zu tunken. Und zwar totzutunken, doch die Schwimmflügel haben ihn daran gehindert.

Animalische Reflexe

Kleine Kinder haben ja noch ganz natürliche, animalische Reflexe, zu denen der gesunde Instinkt gehört, den Konkurrenten zu töten, der der eigenen Entfaltung im Weg ist. Erst später kommen Ethik, Religion und Gesetz hinzu, widernatürliche Konstrukte, die mithilfe von Drohungen oder weinerlichen Pseudoargumenten das Abmurksen der Mitmenschen tabuisieren und erschweren. Die Frau macht schon mal den Anfang. Sie hebt Rico aus dem Wasser, setzt ihn auf eine Stufe oberhalb des Beckens wie auf eine Strafbank beim Eishockey und bringt ihm in eindringlichen Worten die Grundzüge gesellschaftlichen Konsenses näher: Du sollst nicht tunken, du sollst nicht töten.

Rico sieht traurig aus. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Warum auch? Er hat alles richtig gemacht. Die Seelen der Kinder sind rein. Doch bald ist die Strafzeit zu Ende und die Frau hebt ihn zurück ins Wasser. Als sie sich umdreht, fällt ihr Blick wieder auf mich: Den Wolf hätte sie fast vergessen. Ich versuche, sie mit meinem berühmtberüchtigten Hyänenlächeln zu beschwichtigen. Fletsch, grins, fletsch! Auch die Zwerge lächle ich an, die nun eilig aus dem Wasser getrieben werden. Fort aus meiner Reichweite. In Sicherheit. Evakuiert.

„Ihr lieben Kinder“, krächze ich ihnen mit vom verschluckten Chlorwasser rau geschmirgelten Stimmbändern hinterher, „ihr lieben Kinder: bleibt doch! Ihr seid so putzig und ich bin so allein!“ Doch sie bleiben verschwunden. Schade, ich hätte gerne mal mit Rico gesprochen.