Nicht Westen

BLICK Seit die Ukraine darum ringt, wohin sie gehören will, spricht man wieder von Ost und West. Sowenig es eine klare Grenze gibt, so sehr spaltet sie

■ Das Projekt: Für das Buch „East of a New Eden“ wanderte der Fotograf Alban Kakulya 2002 in Kooperation mit seinem Kollegen Yann Mingard die Ostgrenze der EU entlang. 1.600 Kilometer von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Er begegnete Soldaten und Flüchtlingen, fotografierten Grenzsteine und den undeutlichen Horizont.

■ Der Fotograf: Alban Kakulya, 43, studierte in der Schweiz und in New York. „East of a New Eden“ wurde mehrfach ausgezeichnet.

VON NORBERT MAPPES-NIEDIEK

Ein Apotheker dreht friedlich seine Pillen und mischt Pülverchen zusammen. Es ist aber Krieg. Man steckt ihn in einen Schützengraben. Er benimmt sich so unbekümmert, als sei nichts Besonderes los. Plötzlich – krach! – ein Schrapnell. Krach! – ein zweites. Steinbrocken und Fleischfetzen, Blut spritzen nach allen Seiten. Da springt der Apotheker aus dem Graben und brüllt zu den Deutschen hinüber: „Idioten! Seid ihr wahnsinnig? Hier sind doch Menschen!“

Der Witz, den der serbische Schriftsteller Milo Dor überliefert hat, spielt an der russischen Front im Jahr 1916. Man könnte ihn aber auch im Serbien des Jahres 1999 ansiedeln, und wenn es doch viel schlimmer kommt, als gerade alle denken, vielleicht irgendwann auch in der Ukraine. Der Apotheker irrte: Die drüben im Westen sind nicht wahnsinnig. Sie wissen, was sie tun, kämpfen für ihre Nation, für eine Idee, vielleicht für Europa oder den Fortschritt. Nur wissen die hüben im Osten einfach nicht, wie ihnen geschieht.

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Aller Fortschritt kommt aus dem Westen: die Dampfmaschine und die Demokratie, die Aufklärung und das Auto, der Rationalismus und die Raketen. Aus dem Westen kamen die schlimmsten Feldzüge der Weltgeschichte. Serbien verlor im Ersten Weltkrieg mehr als die Hälfte seiner erwachsenen Männer, im Zweiten ließen so viele Ukrainer ihr Leben wie Briten, Franzosen und Amerikaner zusammen. Die Idee kam aus dem Westen. Im Osten waren nur Menschen.

Der Westen ist nicht nur nicht menschlicher, er ist nicht einmal klüger. Im Osten ist der Kopf freier; das westukrainische Galizien hat mehr Dichter und Nobelpreisträger hervorgebracht als Paris. Der Fortschritt ist oft kurzsichtig. Nach der großen Wende legten alle Oststaaten sanfte Asphaltdecken auf ihr Kopfsteinpflaster – um die neuen wenig später mit künstlichen Bodenschwellen wieder zu bremsen. Gerade als sich im mehrsprachigen Osteuropa die Einheit von Sprache und Territorium durchsetzte, knabberte die weltweite Migrationsbewegung das Prinzip im Westen schon wieder an. Als auf dem Balkan für ethnische Reinheit nach westlichem Vorbild gekämpft und gemordet wurde, begann der Westen schon damit, die Diversität zu preisen. Der Fortschritt mag dumm sein, aber er ist leider immer der Fortschritt.

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Der Westen, das war zunächst der Westen Europas. Dann kamen die „Europas außerhalb Europas“ hinzu, die Vereinigten Staaten, Australien und Neuseeland. Erst später weitete sich das „Projekt des Westens“, wie der deutsche Historiker Heinrich August Winkler es genannt hat, auch über Land nach Osten aus. Die europäische Geschichte der letzten hundert Jahre ist eine Geschichte der Osterweiterungen. 1945 überschritt das Modell des liberalen Staates den Rhein, 1989 die Elbe und 2014 den Dnjestr, womit es in der Ukraine angekommen war.

Ins virtuelle Zeitalter, wo der Ort keine besondere Rolle mehr spielt, mag die geografische Begrifflichkeit allerdings nicht mehr recht passen. Vielleicht spricht man besser von einem „Projekt der Moderne“. Dann muss man sich nicht verrenken, wenn man auch Japan oder Hongkong, Singapur und die Internetcafés von Kairo und Mumbai dazurechnet. Oder junge Russen, die nur 30 Prozent ihrer Zeit in Moskau oder Donezk und 70 Prozent im Webspace verbringen. Die „Originalausgabe“ des Projekts ist dann Amerika. Westeuropa ist für das Projekt der Moderne nur die „Version mit Untertiteln“, wie der französische Philosoph Jean Baudrillard es genannt hat.

Das geografische Bild leistet einem Missverständnis Vorschub: Es gibt kulturell nicht den Westen und den Osten, sondern, wenn schon, dann den Westen und den Nichtwesten. Der Westen ist der Sender, der Rest der Welt Empfangsgebiet. Es erstreckt sich über Osteuropa, die arabische Welt, Afrika, Lateinamerika, Zentral- und Südasien. Eine Zeit lang war es Mode, das Verhältnis von Sender und Empfänger abzustreiten. Kritiker des Eurozentrismus wiesen – zu Recht – auf die bedeutenden Beiträge arabischer Mathematiker und chinesischer Philosophen hin. Sie vergaßen dabei, dass beide nur durch Vermittlung über den Westen Teil der globalisierten Kultur werden konnten. Andere sprachen vom Imperialismus des Westens als Mittel seiner Ausbreitung. Sie übersahen, dass der Westen nicht nur die Sklaverei, sondern auch die Idee des Menschenrechts exportiert hat, die ihr ein Ende setzte.

Überall im Sendegebiet gruppieren sich Geisteswelt und Politik in prowestliche Empfänger und in Verweigerer. Die einen wollen es so machen wie die im Westen. Die anderen beharren auf ihrer hergebrachten oder einer neu konstruierten Identität. Je stärker die Signale des Senders West, desto heftiger streiten die beiden Fraktionen.

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Der antike Vorläufer von Westen und Osten, wie wir beides heute verstehen, war das Weltbild der alten Griechen, die im Ausland überall Barbaren sahen, sogar im weiter westlichen Italien. Für die Römer dann lebten die Barbaren im Norden. Als schließlich die Franken deren Reichsidee übernahmen, drehte sich das Weltbild noch einmal um 90 Grad. Seither steht es fest.

Seine erste Form bekam der europäische Ost-West-Gegensatz am 15. Juli 1054, als der Gesandte des Papstes eine Bannbulle auf den Altar der Hagia Sophia im heutigen Istanbul legte und den dort amtierenden Patriarchen exkommunizierte. Fortan teilte sich die Christenheit in eine orthodoxe Ost- und eine römisch-katholische Westkirche. Aber von Symmetrie konnte schon damals keine Rede sein. Die Gesandten waren mit Reformen gekommen. Die östlichen Empfänger wollten nichts davon hören.

Papst und Patriarch stritten über eine westliche Neuerung. Nach Meinung der Römer ging der Heilige Geist nicht nur von Gottvater, sondern auch von seinem Sohn Jesus Christus aus. Die Unterscheidung hört sich heute spitzfindig an, wurde aber zur Grundlage des westlichen Rationalismus: Geht der Geist nur vom Vater aus, so bleibt er den Menschen unverständlich, und man kann nur hoffen, dass er einen irgendwann erleuchtet. Geht er auch vom Menschensohn aus, so muss er mit der menschlichen Vernunft kompatibel sein.

Die orthodoxe Kirche hatte der westlichen „Vernünftelei“ keine eigene entgegenzusetzen. Sie versteckte sich hinter Ritualen und Ikonen. Zur Abwehr westlicher Interpretationssucht entwickelten orthodoxe Theologen die Idee, dass ein Ding und sein Name ein und dasselbe seien. So erschien die Welt unveränderbar. Die Idee spielte dann in der russischen Geistesgeschichte eine wichtige Rolle – bis ins 20. Jahrhundert, als einem in KP-Analysen ständig „fortschrittliche“ und „reaktionäre Kräfte“ begegneten. Beide hatten ihren unveränderlichen Wesenskern und benahmen sich stets so, wie sie hießen. Die Verweigerer im Osten zeichneten ein Zerrbild vom Westen. Es besteht auch heute noch und wird gerade in Ungarn wieder grell ausgemalt. Sich und seinen Landsleuten attestiert man „innere Werte“. Der Westen dagegen erschöpft sich im Streben nach äußerlichem Wohlstand. Auch einen politischen Aspekt hat es: Das stupide, mathematische Mehrheitsprinzip der westlichen Demokratie steht weit unter der „tiefen“ Wahrheitssuche, wie man sie im Osten pflegt. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war dasselbe Westbild auch in Deutschland verbreitet, der „Mittelmacht“, die sich dem Westen nicht zurechnen wollte. Zur gemeinsamen Gegenfigur des aufrichtigen, ehrlich glaubenden Russen und des treuherzigen, erdverbundenen deutschen Michels wurde dabei immer mehr der Jude.

In Russland zeichneten orthodoxe Ideologen das Bild vom Westen als der falschen, trügerischen und dekadenten „Hure Babylon“. Auf dem Balkan dagegen entstand, passend zu dessen Funktion als Brücke zum Orient, der Mythos von der „Vormauer Europas“. Die im Westen bringen sich hinter den dicken Mauern der Festung Europa vor dem Ansturm wilder Horden aus dem Osten in Sicherheit. Man selbst aber lebt draußen vor den Toren, den Angriffen asiatischer Reitervölker schutzlos ausgeliefert. Wir Serben, wir Ungarn, wir Kroaten tragen die ganze Last des Kampfes gegen den Feind des Abendlands und sind die eigentlichen Verteidiger westlicher Werte! Die selbstgefälligen Burgbewohner lassen es sich gut gehen, frönen ihrer Dekadenz und nehmen die Leiden der Glaubensbrüder vor der Mauer nicht einmal wahr. Im Krieg der neunziger Jahre konnte man den Mythos in den serbischen Erzählungen vom dekadenten Bill Clinton wiedererkennen. Während sich die Serben für christliche Werte opferten, trieb der es mit seiner Praktikantin.

Zugleich wurde und wird der Westen auch immer angeschwärmt. Seit den 1830er Jahren streiten in Russland die Slawophilen gegen die Westler. In Deutschland stritten Nationalisten gegen Frankophilie und Kosmopolitentum. Viele Russen, aber auch Ungarn, Kroaten oder Polen schimpfen über westliche Arroganz – nicht von ungefähr auch das deutsche Lieblingsstereotyp von den Franzosen. Meist ist dieses Zerrbild vom Westen ironisch gebrochen. Zum festen Feindbild wurde es stets nur für einen kurzen Rausch – am längsten und am fürchterlichsten im deutschen Nationalsozialismus.

Keine Bewegung im Osten, die sich nicht durch die Haltung gegen oder für den Westen definieren würde. Nichts lässt Putin so viele Herzen zufliegen wie seine plakative Homophobie. Auf dem Balkan finden sich sogar die Todfeinde von gestern, konservative Katholiken, Orthodoxe, Muslime, zum Protest gegen Gay-Pride-Paraden zusammen. Die einen huldigen heimlich Putin, die anderen Erdogan, dem anderen östlichen Autokraten. Den Antrieb gibt ihnen allen die Angst vor dem nächsten Modernisierungsschub, der auch vor den letzten Rückzugsräumen, der Familie und dem Schlafzimmer, nicht haltmachen wird. Dabei war der Osten keineswegs immer so homophob. Noch vor zwanzig Jahren bekamen Schwule in Belgrad oder Warschau leichter ein Hotelzimmer als in Köln oder in Neapel.

Einmal schien das Muster vom ewigen Sender und dem ewigen Empfänger durchbrochen: Nach 1917 strahlte das revolutionäre Russland weit nach Westen und beeindruckte Arbeiter und Intellektuelle. Aber als Idee hatte der Kommunismus nichts Östliches an sich. Entstanden war er als Antwort auf den Kapitalismus, den es in Russland kaum gab. Entwickelt hatten ihn zwei Westdeutsche in London, die keine Gelegenheit ausließen, dem russischen Reich ihrer Zeit und dem gesamten „Völkerabfall“ im Osten ihre Verachtung darzutun.

Die Strahlkraft der Sowjetunion ließ schon rapide nach, als Stalin an die Macht kam. Die neue Welt im Osten glich bald der alten unter dem Zaren. Bei den ewigen Aufmärschen gruppierten sich die ordenbehängten Würdenträger wie die Popen in der Messe – links vom Generalsekretär der „Liebling des Volkes“, rechts der Chefideologie.

Auch zu kommunistischer Zeit rangen überall im europäischen Osten Empfänger und Verweigerer miteinander. Die einen hießen „Rechtsabweichler“, die anderen „Nationalbolschewiken“. Der Marxismus bot ihnen bloß die Zitate, mit denen sie einander bewerfen konnten. Viele westliche Avantgardisten hielten zwar an einem positiven Bild der Sowjetunion fest, aber nur, um ihren konservativen Gegnern im Westen keine freie Flanke zu bieten. Die Existenz des „realen Sozialismus“ wurde für die westliche Linke immer mehr zur Belastung.

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Um empfangen zu können, braucht man einen Sender. Der Sender aber braucht den Empfänger nicht. Er funkt seiner Natur nach, ganz egal, ob seine Signale empfangen werden. Schon durch seine passive Ausstrahlung bringt der Westen den Osten in Bewegung und nicht erst durch seine aktive Bemühung. Keine imperialistische Absicht, sondern der Prozess der europäischen Einigung selbst war es, der nach 1990 die verbliebenen bi- und multinationalen Föderationen im Osten zerrissen hat – die Sowjetunion, Jugoslawien, die Tschechoslowakei. Wenn bei dem Prozess jetzt auch immer mehr Ukrainer dabei sein wollen, kann der Westen Europas nichts dagegen tun. Er muss es aber wissen, um richtig damit umgehen zu können.

Meistens weiß er es nicht. „Wir sind nicht gekommen, um zu lernen und zu diskutieren, sondern um zu lehren und euch unsere Entscheidungen kundzutun“, sprach der Überlieferung nach der päpstliche Gesandte Humbert de Moyenmoutier, als er anno 1054 nach Konstantinopel kam, um den Patriarchen auf Linie zu bringen. In den „Hausaufgaben“, die unsere östlichen EU-Beitrittskandidaten immer machen müssen, und in den „Fortschrittsbericht“ genannten Jahreszeugnissen mit Kopfnoten in Führung, Ordnung und häuslichem Fleiß hallt der schrille Ton des ersten Westeuropäers bis heute nach.

Das Bild von dem Sender und dem Empfänger weist dem Westen und dem Osten archaische Geschlechterrollen zu; tiefer kann die eine patriarchalische Gesellschaft die andere patriarchalische kaum kränken. Der demonstrative Machismo der Putin-Anhänger soll die Kränkung vergessen machen. Osteuropa, so die kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugresic, „war immer da und wartete auf den Menschen aus dem Westen wie eine Haremssklavin“.

Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der AnfangGEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, PHILOSOPH

Der Held im Westen ist Verbrecher im Osten und umgekehrtFRITZ BAUER, RICHTER UND STAATSANWALT

Von meiner Herkunft her bin ich auf den Osten spezialisiert. Allerdings habe ich das Problem, dass die Interpretation des Ostens längst in Westhände gelangt istULRICH PLENZDORF, SCHRIFTSTELLER

Der „Mensch aus dem Westen“ hat sich das nach dem Fall der Mauer nicht zweimal sagen lassen und die Chance zur Befruchtung maximal genutzt. Den anfänglichen Vorträgen des Europarats wurden noch gerne zugehört. Dann unterzog die EU den ganzen Osten ihrem Unterricht, nur Russland nicht, das schon zu alt und für die Schulbank zu groß war. Die anderen haben, wie alle Schüler, ein gutes Gehör für falsche Töne bei ihren Lehrern entwickelt und horchen auf, wenn etwa im Kosovo oder in Bosnien der westliche Botschafter vom Pult aus die rechtsstaatlichen Ausschreibungsregeln anmahnt und nachher beim Empfang für die Firma des eigenen Landes lobbyiert. Seit Beginn der Finanzkrise hat sich das Gehör geschärft. Die Töne aus dem Westen klingen immer häufiger schief.

Tatsächlich kann man schon auf den Gedanken kommen, dass der Westen immer dann besonders laut dem Osten predigt, wenn er selber gerade am wenigsten westlich ist. Als nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen die Hoffnung für das eigene Vaterland so grausam enttäuscht worden war, entdeckte der deutsche Dichter und Revolutionär Georg Forster in Russland lauter „Halbwildheit“ und „Halbkultur“. Je schwächer sie selber wurden, desto intensiver hassten im 19. Jahrhundert die europäischen Liberalen Russland, die „Cholera“ und das „Reich der Lüge“, wie der Historiker Jules Michelet es nannte.

Triumphiert der Westen dagegen und darf er sich seiner selbst sicher sein, wird ihm der Osten zu einer schönen Märchenwelt – wie in den 1990er Jahren, als Romantiker fremde Ländereien wie Wolhynien, Lodomerien oder Galizien wiederentdeckten und in Lemberg und Czernowitz auf Spurensuche gingen. In geistigen Krisen wird der Osten dagegen zum Feindbild. Einen Kalten Krieg brauchte nach 1945 nicht nur Stalin, sondern auch der Westen. Der Holocaust hatte den Glauben der Aufklärer widerlegt, dass Rationalität und Menschlichkeit Hand in Hand gehen würden – die größte Irritation, die dem Westen in seiner Erfolgsgeschichte zugestoßen ist. Schon als die Sowjetunion noch gar keine Anstalten machte, die neue Einflusszone in Ostmitteleuropa zu sowjetisieren, sah Churchill an der Linie Stettin–Triest einen „Eisernen Vorhang“ niedergehen. Für Konrad Adenauer, der Deutschland fest an den Westen binden wollte, stand sogar „Asien an der Elbe“. Westlich konnte sein Land nach allem, was geschehen war, nur im Kontrast zu einem finsteren Osten sein.

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Der wirkliche Osten ist ein ideologisch kaum kartiertes Gebiet, das sich besser in Bilder fassen als auf Begriffe bringen lässt. Man lebte hier lange Zeit weiter verstreut, wie in Russland, oder – wie auf dem Balkan – durch Berge isoliert voneinander, tauschte sich entsprechend weniger aus und hat sich auch nicht so vereinheitlicht. Weil es so wenig Konformismus gibt, trifft man auch, je weiter man nach Osten und Südosten reist, immer weniger Spießer. Man kann im Osten auf eine eifernd vorgebrachte „reine Lehre“, auf Kleingeist und Nationalismus, auf Grausamkeit treffen. Es gibt aber zugleich eine Neugier und Gastfreiheit, eine große Freundlichkeit. Man stößt auch immer wieder auf eine im Westen ungekannte Toleranz. Eine Inquisition hat es weder in Russland noch im Osmanischen Reich gegeben.

Mehr als vor der Diktatur fürchtet man sich im Osten vor dem Chaos, von dem wir im Westen kaum mehr ahnen, dass es existiert. Fern voneinander liegende Siedlungen oder Gruppen, die verschiedene Sprachen sprechen, lassen sich nicht so leicht durch ständigen Austausch aneinanderbinden. Das verführt zu autokratischer Herrschaft. Aber Osteuropa überrascht auch immer wieder. Kaum glaubt man, gelernt zu haben, wie verbreitet dort der Rassismus ist, irritiert einen die Nachricht, dass sie in der Slowakei einen Rom und in Slowenien einen gebürtigen Ghanaer zum Bürgermeister gewählt haben.

Migriert wird seit langem immer nur von Osten nach Westen. Als es früher einmal andersherum war, kamen die Siedler aus dem Westen als Kolonisatoren. Nach dem Pro-Kopf-Einkommen liegen heute sämtliche westlichen Länder vor sämtlichen östlichen; nur Portugal reißt nach unten aus und landet hinter Slowenien, Tschechien und der Slowakei, Zypern und Griechenland auf dem Niveau Estlands. Die Ukrainer erwirtschaften selbst davon nur ein Drittel und wetteifern mit Paraguay, Jamaika, dem Irak und Albanien um den 100. Platz unter den Nationen. Russland lebt wie vor hundert Jahren von seinen Rohstoffen. Über eine nennenswerte Industrie verfügen nur – dank westlicher Investitionen – die Slowakei, Ungarn, Tschechien und Polen. Einen „Tigerstaat“ gibt es in ganz Osteuropa nicht.

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Auf die Frage des Historikers Fernand Braudel, ob er sich als Europäer fühle, hat ein Schriftsteller mit dem Dialog eines Ungarn und eines Holländers im KZ geantwortet. „Für euch“, sagt der Ungar, „ist es leicht, Europäer zu sein. Ihr seid immer Europäer, gleich was ihr tut und selbst dann, wenn ihr euch vom Faschismus verführen lasst. Ihr werdet euch seiner erwehren können, und sei es unter großen Opfern. Wir aber, an der Grenze zwischen Ost und West, müssen unser Europäertum seit tausend Jahren verteidigen. Wir müssen es immer neu gewinnen, Tag für Tag.“ Besser lässt sich die Anforderung, zum Westen zu gehören, nicht beschreiben.

Norbert Mappes-Niediek, 60, lebt als freier Korrespondent im österreichischen Graz und bereist von dort aus Südosteuropa und Ungarn. Er hat mehrere Bücher über den Balkan geschrieben und war 1994 und 1995 Berater des UNO-Sonderbeauftragten für das ehemalige Jugoslawien. Zuletzt erschienen von ihm „Die Ethno-Falle“, „Kroatien. Das Land hinter der Adria-Kulisse“ und „Arme Roma, böse Zigeuner“ im Ch. Links Verlag Berlin