Flüchtlinge über Berlin

KREUZBERG Was passiert, wenn die Asylbewerber aus dem Fernsehen plötzlich auf dem Nachbardach stehen und drohen, zu springen? Beobachtungen aus dem tolerantesten Viertel der Republik

Eineinhalb Jahre wohnten Flüchtlinge in der leer stehenden Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. In dieser Woche kämpften die letzten verbliebenen von ihnen gegen die Räumung ihrer Unterkunft. Ein Rückblick in Twitter-Nachrichten:

@Petmobbb, 30. Juni AnwohnerInnen #Ohlauer ziehen laut singend „Kein Mensch ist illegal“ durch ihre polizeilich abgeriegelten Straßen. @OhlauerInfo, 30. Juni Anwohner, Schüler: „Ich will nicht jeden Tag von der Polizei von der Schule nach Hause gebracht werden!“

@MdB_Stroebele, 30. Juni Präsident Gauck fordert: Mehr tun für Flüchtlinge. Recht hat er. Gilt aber auch für Papiere, Bleiberecht der Flüchtlinge in Kreuzberger Schule.

@OhlauerInfo, 1. Juli Bezirk hat Befehl zur Räumung gegeben. Es ist sehr wichtig, dass jetzt viele Menschen hier sind.

@OhlauerInfo, 1. Juli Wiener/Lausitzer wurde mittels massiver Polizeigewalt geräumt. Es formiert sich bereits die nächste Sitzblockade! :)

@lorz, 1. Juli Bezeichnend: Die @GrueneXhain erwähnen in ihrer Stellungnahme zur #ohlauer mit keinem Wort 8-tägigen Polizeieinsatz

@OhlauerInfo, 1. Juli Derzeit wird die Essenslieferung für die Schule ohne Begründung seitens der Polizei nicht durchgelassen.

@peaceforsudan, 1. Juli police, Henkel, Sante we human being, we are not criminal.

@bov, 2. Juli Polizei-Einsatz #Ohlauer kostete 5 Mio. €. Macht 125.000 €/Flüchtling. Oder eine kleine Eigentumswohnung. @OhlauerInfo, 2. Juli Vom Dach: Ist es o.k., wenn ich weine? Wir weinen für Freiheit!

@OhlauerInfo, 2. Juli #ohlauer Straße ist frei! Gitter weg!!!!!!!!

@C_Emcke, 3. Juli Die traurigste Erkenntnis aus dem Konflikt um die #ohlauer Straße: das Misstrauen der Geflüchteten hat Europa sich redlich verdient. #asyl

@FrauWolf, 4. Juli Wie geht es eigentlich dem Schüler, dem in die Augen gesprüht wurde?

AUS BERLIN-KREUZBERG KRISTIANA LUDWIG
UND JOHANNES GERNERT

Der Grenzzaun, der die reichen Europäer von den verzweifelten Afrikanern trennt – an diesem Sonntagnachmittag steht er in Berlin-Kreuzberg und hat die Form eines Gartentörchens. Petra Schulze nimmt ein Vorhängeschloss und sperrt es ab.

Es ist Tag sechs eines Ausnahmezustands, in dem etwa 900 Polizisten einen ganzen Block abriegeln. Sie wollen die Versorgungswege abschneiden, vierzig Flüchtlinge haben sich auf einem Hausdach verbarrikadiert. Einer dieser Wege führt durch den Rosengarten von Gregor und Petra Schulze.

Gregor Schulze sagt: „Sie sollen in Afrika keinen Wegweiser aufstellen, auf dem steht: Kreuzberg – da kannst du machen, was du willst.“ Er hat das auch mal anders gesehen.

Bis vor zwei Wochen lebten gegenüber noch 240 Menschen in der alten Schule. Man nennt sie: die Flüchtlinge. Die, die ihnen helfen, heißen: die Unterstützer. Die Schule liegt in Kreuzberg, das eine grüne Bezirksbürgermeisterin hat, einen grünen Baustadtrat und einen grünen Bundestagsabgeordneten. Seine Bewohner stellen sich Kreuzberg freier vor, internationaler, toleranter. „Multikulti“, sagt Gregor Schulze. Deshalb wohnen sie hier, seit mehr als dreißig Jahren.

Schulze fährt Lastwagen und wählt Parteien, die weit links von der SPD sind. Er ist wie auch viele Kreative, Umweltschützer, Menschenrechtler oder Punker aus einem bestimmten Grund in diesen Stadtteil gezogen. Wo sonst, wenn nicht hier, könnte es funktionieren, Garten an Garten mit Menschen zu wohnen, die aus ihrer Heimat in Libyen, Kenia oder dem Sudan geflohen sind?

Seit eineinhalb Jahren sind die Asylbewerber die Nachbarn der Schulzes. Vorher haben sie am Oranienplatz campiert, auch mitten in Kreuzberg. Viele von ihnen verstoßen dabei gegen Gesetze, aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik. Der Bezirk lässt sie gewähren. Er hat den Oranienplatz geräumt, das Schulhaus hat er ihnen gelassen. Dann, in der vergangenen Woche, sollte auch die alte Schule geräumt werden, weil es immer wieder Ärger gegeben hatte und im April auch einen Toten.

Einige der Bewohner haben sich in andere Unterkünfte verlegen lassen, etwa vierzig von ihnen bleiben. Sie ziehen aufs Dach und ins oberste Stockwerk. Gregor Schulze kann die Fahnen sehen, die sie aufgestellt haben, die Stühle, Lautsprecher, Schlafsäcke. Manche drohen, zu springen, wenn geräumt wird.

Unten sperren Mannschaftswagen Stoßstange an Stoßstange die verlassenen Straßen. Wenn die Kreuzberger aus der Ohlauer Straße nach Hause wollen, müssen sie ihren Ausweis zeigen.

In den Achtzigern, beim Kampf um die besetzten Häuser, hätte Schulze so etwas nie akzeptiert. Heute hat er sein graues Haar kurz geschnitten, reiht die Selbstgedrehten in einer Metalldose auf und nennt den Großeinsatz „bemerkenswert“. Er meint das positiv. Die Schulzes fragen nicht mehr, wie sie helfen können, sondern: zu welchem Preis.

Javier Lehmann blickt auf sie herab. Vom Dach aus gesehen ist der Garten des Ehepaars Schulze nur ein grüner Streifen, im Schatten eines meterhohen Zauns, der die pastellgelbe Hausfassade vom vollgestellten Schulhof trennt. Seine Frau Antonia hat die beiden angeschrien vor zwei Tagen: „Ein Schloss vor das Tor?“ Sind die bescheuert?

Sie hatten mitbekommen, wie Petra Schulze versucht hat, Unterstützer der Flüchtlinge aus dem Garten zu vertreiben – und was die antworteten: „Nazi-Braut.“ Sie beschlossen, dass sie das spätestens jetzt auch etwas anging, und stiegen auf ihr Dach.

Seine Kamera ist in diesen Tagen zu Javier Lehmanns Waffe geworden. Der einzigen, die er hat, um die Flüchtlinge gegenüber zu verteidigen. Als Zeuge. Er ist ein schmaler Mann, 39 Jahre alt, Dreitagebart, in seiner Augenbraue hat er einen Silberring.

Er hat die Info-Telefonnummer der Demonstranten in seinem Smartphone gespeichert. Über den Nachrichtendienst Twitter verfolgt er die Polizeimeldungen, die Botschaften der Flüchtlinge und der Unterstützer. Er will berichten, was drüben vor sich geht.

Wenn er sich umschaut, sind auf den Dächern über Kreuzberg Menschen zu sehen – Journalisten, Polizisten, Anwohner. Sie sitzen in der Sonne, schauen durch Ferngläser und beobachten das Schuldach. Die Flüchtlinge haben mit weißer Farbe eine Botschaft auf die Dachpappe gepinselt: „Freedom“.

Oben trifft Lehmann Nachbarn, denen er vorher nicht einmal im Hausflur begegnet ist.

Mittwoch. Tag neun. Die Leute auf dem Dach sind gestresst, Lehmann kann es sehen. Am Morgen war die Polizei im Hof.

Unten hört Petra Schulze die Musik der Demonstranten durchs Fenster. Rings um ihren Wohnblock sitzen junge Leute im Schneidersitz auf den Straßen. Sie haben Instrumente dabei, Geigen, Gitarren, eine Querflöte. Wenn die Ablösung der Polizisten kommt, werden sie lauter. Meist gegen 6 Uhr und mittags.

Schulze ist zierlich, ihr langes, graues Haar trägt sie als Zopf. Auf dem Wohnzimmertisch hat sie eine Wachsdecke ausgebreitet, darauf Platzdeckchen aus Plastik. Zwischen den Fenstern schwingt das Pendel einer Massivholzuhr. Im Aquarium schwimmen Guppys. „Wir haben keine Nachtruhe mehr, seit anderthalb Jahren“, sagt sie.

„Ich habe Angst“, sagt sie, und meint: vor den Demonstranten.

„Ich habe Angst“, sagt Antonia Lehmann und meint die Polizei.

Die Beamten lassen niemanden rein: keine Journalisten, keine Helfer. Das Essen bringen sie in Einkaufswagen bis zum Schultor, zweimal am Tag. Den Rest der Zeit seien die Flüchtlinge den Polizisten ungeschützt ausgeliefert. So sieht sie es.

Lehmann ist 39 wie ihr Mann, sie trägt Baumwollblusen und das braune Haar kinnlang. Die Kinder sind klein, sie spielen auf Holzdielen. Lehmann weiß, wie es ist, wenn man fremd ist: Mit Javier hat sie lange in einem Land gelebt, in dem man spanisch spricht. In welchem, soll nicht in der Zeitung stehen, so wenig wie ihre echten Namen. Sie fürchten den Zorn der Nachbarn.

„Wir sitzen hier mit einem Riesenproblem“, sagt Petra Schulze. Der Müll auf dem Schulhof, der Abfall, den die Flüchtlinge aus den Fenstern warfen. Ratten. Uringeruch.

„Wer spricht heute noch über den Marokkaner?“ Sie hat es in der Zeitung gelesen. Er wurde erstochen, im Streit um die einzige Dusche. „Deswegen ist der doch nicht nach Deutschland gekommen“, sagt sie, „um hier zu sterben.“ Sie fasst sich an die Stirn: „Das hat mich krank gemacht.“

Petra Schulze hat eine Frau auf dem Dach stehen sehen: „I’m jumping!“, rief sie: „Ich springe!“ Was kann man da tun? „Der Staat sollte sich nicht erpressbar machen“, sagt ihr Mann. Auch die Schulzes heißen anders.

Mag sein, dass die großen Träume von der guten Flüchtlingsunterkunft auch mit den Grünen zu tun haben. „Wenn Grüne regieren, gibt es immer die Erwartung, dass sie alle Probleme dieser Welt lösen“, sagt Cem Özdemir, ihr Vorsitzender. Er sitzt in einem schwarzen Ledersessel in seinem Bundestagsbüro, draußen vor dem Fenster weht eine schwarz-rot-goldene Flagge überm Reichstag. Özdemir hat gute Laune. Er müsse die Kreuzberger Grünen jetzt mal loben. Das hätte man alles besser kaum regeln können. Es ist Donnerstag, der Tag, nachdem die Räumung abgesagt wurde, weil man sich doch einmal wieder auf etwas geeinigt hatte.

Özdemir wohnt selbst in Kreuzberg. Er weiß, wie Ansprüche und Wirklichkeiten sich dort anrempeln können. In seinem Haus sollte mal eine Fixerstube eingerichtet werden. Es gab einen ziemlichen Aufstand. Özdemir ist Realo. Die Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg, Monika Herrmann, kam manchen in den vergangenen Wochen wiederum wie eine ziemliche Irreala vor mit ihren Träumen von Coffeeshops im Park und Flüchtlingsheimen, in denen alles super läuft, ohne dass sich jemand so richtig darum kümmert.

Politischer Protest brauche seinen Raum, sagt Özdemir: „Die Gefahr ist aber da, dass das Signal gesetzt wird, wenn du Dächer besetzt und mit Selbstmord drohst, dann erreichst du mehr. Das kann nicht die Botschaft sein.“ Bei allem Respekt, Erpressung geht gar nicht. Es ist die bürgerlich korrekte Empörung zum Flüchtlingsdrama der Woche.

„Man hat ja nicht nur eine Verantwortung für die Flüchtlinge, sondern auch für die Anwohner. Für den Gesamtbezirk. Das blenden einige aus der selbst ernannten Soli-Szene komplett aus“, sagt Özdemir.

Auf dem Dach schalten die Flüchtlinge am Mittwochnachmittag endlich wieder die Musik ein. Javier Lehmann sieht drei von ihnen, einer erklimmt eine Trittleiter. „Knocking on Heaven’s Door“, heißt der Song. „Gut, dass sie wieder tanzen“, sagt er. Antonia nennt es „Tanztherapie“.

Gregor und Petra Schulze setzen sich manchmal nachts gemeinsam an den Tisch mit der Wachsdecke und trinken einen Kaffee. Immer dann, wenn sie die Musikanlage wach hält. Der Lärm macht sie wütend, und damit sind sie nicht allein.

Zwei Stockwerke über ihnen teilen sich zwei Frauen eine Wohnung, eine Krankenschwester und eine Unternehmensberaterin für Naturschutz. Sie zog vor acht Jahren ein, als das Gebäude noch eine Schule war. Kriterium: Vogelgezwitscher nach Unterrichtsschluss. Heute erzählt sie von einer Phase im vergangenen Jahr, als sie nur einmal pro Woche die Polizei rief – wegen der Lautstärke. Mittlerweile wählt sie alle zwei Tage die 110 und seit der Besetzung täglich.

Das Schlimmste, da ist sich das Ehepaar Schulze einig, ist aber die Kriminalität. Wie die Flüchtlinge mit den Männern zusammenarbeiten, die im nahen Görlitzer Park Drogen verkaufen, ist für sie leicht zu erkennen: an der Hautfarbe. Einmal hat Gregor Schulze auf dem Heimweg Schwarze gezählt, sagt er. „Tausend.“ Natürlich, man kann nicht alle über einen Kamm scheren.

„Man redet über Toleranz und hat gleichzeitig massive Vorurteile“, sagt Wilhelm Heitmeyer, der große alte Soziologieprofessor aus Bielefeld. Jahrzehntelang hat er Ressentiments erforscht. „Toleranz“, stellt Heitmeyer fest, sei etwas einseitiges. „Die Mehrheit ist tolerant gegenüber einer Minderheit. Wenn sie keinen Bock mehr hat, kündigt sie diese Toleranz auf.“ Heitmeyer hätte stattdessen lieber Anerkennung. „Anerkennung ist etwas Wechselseitiges. Das gilt natürlich auch für die Flüchtlinge.“ Erpressung hält auch er für keine besonders kluge Idee.

Für die Ressentiments, die unter vielen Kiezbewohnern in den vergangenen eineinhalb Jahren gewachsen sind, hat er eine schlichte Erklärung: Sobald Flüchtlinge in Gruppen auftreten, würden die Grenzen hart gezogen. „Man muss die Gruppen auflösen, damit sich die Menschen begegnen.“ Deshalb seien Städte wie Hamburg besonders fortschrittlich, wo manche Flüchtlinge jetzt in eigene Wohnungen einquartiert würden. Aus dem Mitglied einer Gruppe wird ein Nachbar.

In Kreuzberg hat man viel Erfahrungen mit Hausbesetzungen, aber diese ist anders.

Die meisten Menschen hier wollen gern anders leben, früher hätte man alternativ gesagt, oder auch: linksalternativ. Gemeint ist auch immer: korrekt. Ökologisch korrekt, politisch korrekt. Sozial korrekt.

Wie aber verhält man sich korrekt, wenn die Menschen, die man gerade noch auf Booten im Fernsehen hat fast ertrinken sehen, im Park stehen und Gras verkaufen oder eben auf dem Hausdach gegenüber und brüllen, dass sie springen?

Andreas Teuchert sitzt ein bisschen gekrümmt da, als würde ihm die Frage schon länger Bauchschmerzen machen. Er lebt seit 13 Jahren in Kreuzberg. Erst hier, sagt er, hat er angefangen sich wirklich wohlzufühlen. „Warum? Is’ mehr so intuitiv“, sagt Teuchert, 43 Jahre alt, zwei Kinder, Ex-Münchner. Er mag die Mischung von Milieus, von Kulturen.

Mehrere Jahre hat er versucht, den Konflikt zu entschärfen, der in dieser Woche wieder so greifbar wurde. Im Herbst haben sie auf einer Bühne im Görlitzer Park diskutiert. Ein Flüchtling in beigem Anzug, ein Anwohner mit Filzhut, die Bezirksbürgermeisterin in Jack-Wolfskin-Jacke, eine Romni im Rock. „Unser Görli – einer für alle“ stand auf einem bunten Plakat. Alle hörten sich zu. Für einen Tag sah alles gut aus. Schöner hätte man Kreuzberg nicht malen können.

Teuchert, der auch mal Filme gedreht hat, will eine nachhaltige Alltagskultur in den Kiez bringen. Mit einem Nachbarschaftsladen, mit Seminaren zur gewaltfreien Kommunikation. „Gutes Leben“, sagt er. „Buen vivir.“ Vor drei Jahren hat er mit seiner Freundin begonnen, das gute Leben auch in den Görlitzer Park hineinzutragen, mit dem Projekt „Unser Görli“, im Auftrag des Bezirks.

In seiner Vorstellung pflegten Frauen, die einmal aus der Türkei eingewandert waren, mit jungen Männern aus dem Sudan Gemeinschaftsbeete. Tatsächlich kamen eher weiße Mitteleuropäer. Und von Anfang an gab es den Verdacht, sie wollten andere verdrängen.

In der Boulevardzeitung B.Z. stand, die Leute seiner Initiative „Unser Görli“ wollten Kinder mit Schülerlotsen durch den Park führen, was Quatsch war. Zuvor hatte sie ihn als eine Art Einmannbürgerwehr inszeniert. „Ein völlige Verdrehung dessen, was wir vorhatten“, sagt er. Teuchert wurde da schon hart von radikalen Linken angegangen, obwohl er manche ihrer Forderungen gut findet. „Da ist uns bewusst geworden, was für Fronten es gibt.“

Irgendwann hat jemand in ihrem Nachbarschaftsladen die Scheiben eingeschmissen und „Nazis raus“ und „Teuchert aufs Maul“ an die Wand gesprüht, was fast schon lustig wäre, sagt Teuchert, wäre der Laden nicht auch Teil ihrer Erdgeschosswohnung.

Man komme mit dem partizipatorischen Ansatz doch an Grenzen, sagt er. Die einen beschimpfen sofort jeden als rassistisch, der nur andeutet, dass im Park etwas nicht ganz in Ordnung sein könnte. Die anderen haben „eine Art von Angst gegenüber dem Anderen“, wenn sie den Park betreten, „obwohl sie eigentlich tolerant sein wollen“.

Teuchert sitzt in einem Café gegenüber der Waldorfschule seiner Kinder, dreht eine nach der anderen und raucht sie hintereinander weg. „Was die Schule betrifft, unterstützte ich total die Forderung von denen, die dringeblieben sind. Zugleich habe ich diesen Ort als zunehmend unerträglich empfunden, wenn ich drin war.“ Er kümmert sich um einen der Flüchtlinge, hilft mit Anträgen, mit Behörden. Er merkt, wie es Kraft kostet.

Warum hat die Schule nicht als Projekt funktioniert? Als ein Ort, an dem man zeigt, wie es anders gehen kann? Wo die Flüchtlinge eben nicht am Rand, sondern mitten unter anderen leben? Vielleicht haben sich am Ende doch zu wenige gekümmert, überlegt Teuchert. Vielleicht hätte auch er sich mehr kümmern müssen. Er bläst den Rauch die Straße hinunter.

Als es am Mittwochabend dunkel wird, wird es voll an der Absperrung. Schweigend stehen die Demonstranten auf der Straße. Der Straßenlautsprecher, auf dem mittlerweile eine Topfpflanze steht, fiept. Das Bezirksamt hat sein Räumungsersuchen zurückgezogen. Liveschalte auf das Dach.

Die Frau am Hörer weint: „Thank you so much. Nine days long!“ Sie schluchzt. Die Zuhörer klatschen und johlen. Die Polizei will noch in dieser Nacht abziehen. An der nächsten Straßensperre schaltet ein älterer Herr mit neonorangefarbener Kappe seine Lichtinstallation ein. Die Party beginnt.

Ein Jüngerer, Stoffschuhe, Bauchansatz, bleibt bei einer Gruppe Polizisten stehen. „Aus Baden-Württemberg? Dann können Sie ja jetzt nach Hause“, sagt er. „Noch lange nicht“, erwidert der Polizist in schwarzer Montur. „Genießen Sie das Flair in Kreuzberg“, sagt der Mann und schlendert davon, einen bedruckten Stoffbeutel unterm Arm.

Javier Lehmann ist gegen zwei Uhr morgens im Bett. Um neun Uhr sitzt er wieder auf dem Fahrrad – den Kleinen hinten im Sitz, die Große auf dem Roller neben sich. Es war schwer, aus dem Bett zu kommen. An gestapelten Sperrzäunen vorbei fährt er in Richtung Kindergarten.

Als Petra Schulze an diesem Morgen aufwacht, sieht sie neue Gesichter auf dem Schulhof: Männer in dunklen T-Shirts tragen den Schutt zusammen, auf ihrem Kastenwagen steht „Acut SOS Clean“. Einer der Schwarzen hat eine Decke um seine Schultern geschlungen. Als ihm ein Polizist begegnet, hört sie: „Guten Morgen.“

Schulze putzt ihre Fenster zum Hof. Die Aussicht wird besser: Der Bezirk will ein Flüchtlingszentrum einrichten. Es soll mehr Duschen geben.

Kristiana Ludwig, 26, und Johannes Gernert, 34, sind Redakteure der taz

Das vollständige Interview mit Cem Özdemir lesen Sie unter taz.de/oezdemir