Die Geste der Trauer ist stolz und zärtlich

NSU „Blumen für Otello“, Esther Dischereits Buch der Klage über die türkischen Mordopfer in unserer Nachbarschaft

In der nach Sagrotan stinkenden Kloake eines deutschen Wohnwagens sitzen Figur A und B. Die Verdauung einer Katze gilt ihnen mehr als das Leben

VON ELISABETH WAGNER

Dieses Buch könnte Jagos Albtraum sein. Der Albtraum jedes Rassisten. Wäre es denn für oder gegen Jago geschrieben. Aber das ist es nicht. Dieses Buch ist eine eigene Welt, und in dieser Welt würde sich Jago nicht zurechtfinden. Er würde seinen Hass suchen und ihn nicht finden. Er würde sich selbst suchen und sich nicht wiedererkennen. „Blumen für Otello“ heißt dieses Buch, geschrieben von Esther Dischereit. Es öffnet die Türen zu einem bisher fest verriegelten Haus.

Der erste Raum ist hell und groß, darin wohnt, schön und unausweichlich, die Trauer. Es ist die Trauer um ermordete Väter, Söhne, Brüder. Sie hatte in den Schlagzeilen um die Morde des NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds, bisher wenig oder gar keinen Platz.

jetzt wünsche ich mir / dass du mich ärgerst / oder einen Fußball kaufst / oder eine Cola / und mich am Hemd ziehst / und sagst / es passt dir nicht / es ist zu groß. Die Geste der Trauer ist zärtlich und erhaben. Sie ist stolz wie überhaupt dieses Buch der Klage. Es ist ein wichtiges Buch, dessen Lektüre eine starke, fast räumliche Erfahrung ist.

Der Hall, der Ton der Stimmen verändert sich von Raum zu Raum, und in den Klageliedern am Anfang ist die Akustik eine völlig andere als im anschließenden Libretto mit seinen offenen Szenen, seinen Prosaskizzen, die wie Inseln aus einem unabsehbar dunklen Meer vor den Augen des Lesers auftauchen. Man liest und liest, wie auf einer Suche. Ein verlockender Gedanke, dass sich bald Schüler daran beteiligen könnten. Dass sie sich verstören und beschleichen lassen von Zweifeln an einer Gesellschaft, die es nicht fertigbringt, traurig über türkische Mordopfer in der Nachbarschaft zu sein.

Die Trauer empfindet den Verlust. Von Trauer wie betäubt kann man sein, schwerer als sie wiegt auf Dauer nur ihre Vermeidung. Trauer, auch öffentliche Trauer, gehört ins Herz der Zivilisation. Jacques Derrida hat nach dem Tod Roland Barthes’ seiner Trauer Ausdruck verliehen. „Für ihn“, für Barthes schreibe und denke er, so Derrida. Dabei scheine dieses „für ihn“ zu bedeuten, „dass ich ihm diese Gedanken auch widmen wollte, sie ihm geben, schicken wollte“. Der Trauernde muss damit leben, dass es unmöglich ist, und doch an seiner Widmung festhalten, an jenem „für“, das eine seltsame Präsenz ist, ein Schmerz und eine Liebe.

Auch die jüdische Dichterin Esther Dischereit schreibt und denkt im Modus dieses „für“. Ihr Buch, das mit dem deutschen Text zugleich die türkische Übersetzung von Saliha Yeniyol bereithält, ist den Opfern der NSU-Verbrechen gewidmet. Vor den Augen der Hinterbliebenen müsse es Bestand haben, sagt Dischereit. Das ist eine unmissverständliche Haltung. Mit der medialen Täterfixierung hat sie nichts zu tun. Nichts mit dem Lustschauer, dem faszinierten Selbstekel, der sich darum kümmert, wie viele unauffällige, sadistisch-gewaltbereite Anteile das Ich Beate Zschäpes in sich trägt.

Nicht, dass in „Blumen für Otello“ keine Rechtsradikalen und neonazistischen V-Leute auftreten würden. Nur treten sie nicht nach ihren eigenen Spielregeln auf. Wie gesagt, Jago würde sich nicht wiedererkennen. Der Leser allerdings weiß, wes Geistes Kind in der nach Sagrotan stinkenden Kloake eines deutschen Wohnwagens sitzt. Sie heißen Figur A und Figur B. Die Verdauung einer Katze gilt ihnen mehr als das Leben. Dokumentarische Spuren wie diese finden sich immer wieder im Text. Sie verweisen den Leser auf die Wirklichkeit des rechten Terrors, auf dessen Personal, das viel zahlreicher sein muss, als die Rede vom „Terrortrio“ glauben macht. Auch diese Wahrheit spürt man fast körperlich. Der Sumpf reicht weit.

„Dichter und Betrunkene können die Wahrheit sagen“, weiß Esther Dischereit. Kinder und Verrückte können das bekanntlich auch. Sie sehen und klagen, und zu hören bekommen sie, es sei alles halb so schlimm. Sie sollen sich nicht anstellen und am Ende seien sie womöglich selber schuld. Von „Döner-Morden“ hat man gesprochen. Von Geld und blonden Geliebten. Den Familien der ermordeten Opfer des NSU hat man vieles zugemutet und sie der Blutrache und des Drogenhandels verdächtigt. Vergeblich suchten Hunde nach Spuren.

Enver Șimșek war das erste Opfer. Am 9. September 2000 wurde er durch mehrere Schüsse tödlich verletzt. Sein Herz muss kräftig gewesen sein. Enver Șimșek starb erst zwei Tage später. Ein Zeuge, das ist bei den investigativen Journalisten zu lesen, habe sich gemeldet. Er habe der Polizei erklärt, zwei Männer gesehen zu haben. Der eine, über 1,80 groß, schlank, dunkles T-Shirt, helle Baseballmütze, habe, den Fuß auf dem Trittbrett, eine Bewegung ins Innere des Fahrzeugs des Blumenhändlers gemacht. Im Weiterfahren habe der Zeuge dumpfe Schläge gehört und zu seinem Sohn „das war jetzt aber ein komisches Benehmen“ gesagt. Die Polizei verzichtete darauf, nach den Angaben des Zeugen ein Phantombild zu zeichnen. Und sie fuhr in seiner Begleitung auch nicht zum Tatort. Sie hielt es nicht für wichtig. Oder wollte es nicht für wichtig halten.

Enver weiß um diesen Verrat. Jener Enver, dem man bei Esther Dischereit begegnet. Nicht klein und zerschossen ist er da, sondern groß. An der Seite Otellos erscheint er, als Gefährte des erfolgreichen Feldherrn, des „Mohren“, den jeder Allerwelts-Jago nicht aufhören kann zu hassen. Otello und Enver, sie sprechen über ihr erlittenes Schicksal. Otello bietet Enver höflich das Du an.

Es ist eine exklusive Begegnung, geprägt von Respekt und Mitgefühl. „Wir werden eine Tasse Tee zusammen nehmen“, sagt Otello. Ein fehlendes h trennt ihn von Shakespeares Held Othello. Eine kostbare Orchidee für die Ehefrau kaufte er jedes Mal bei Enver. „Vergiss die Blume nicht“, sagt Enver zu Otello. Es ist die hellste Stelle in diesem Buch. Jago unterliegt.

■ Esther Dischereit: „Blumen für Otello. Için Çiçekler. Klagelieder. Agitlar. Über die Verbrechen von Jena“. Secession Verlag für Literatur, Zürich, 2014