„Die Hauptschule war für die Schüler eine Sackgasse“

LEHRERINNENSICHT Seit 30 Jahren unterrichtet Hilde Holtmanns an der Rütli-Schule. Mit dem Brandbrief hat sich viel verändert – vor allem aber die Perspektive

■ 62, ist seit 30 Jahren Lehrerin an der Schule Campus Rütli. Sie unterrichtet Mathematik und Arbeitslehre. Als Schulmediatorin begleitet sie SchülerInnen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. 2006 verfasste sie mit KollegInnen den „Brandbrief“.

taz: Frau Holtmanns, Sie waren 2006 unter den LehrerInnen der Rütli-Hauptschule, die den Brandbrief unterschrieben haben. Was waren Ihre Gründe?

Hilde Holtmanns: Die personelle Situation war ein ganz großes Problem. Es gab keine Schulleitung, die Schule musste von einer komissarischen Leitung geführt werden. Aus dieser Situation heraus war das Konfliktpotential an der Schule sehr groß. Die Situation war zwar nicht ständig so wie in dem Brief beschrieben, aber es waren eben Dinge, die vorkamen.

Was hat sich denn unmittelbar nach der Veröffentlichung des Briefes verändert?

Schnell hat sich die personelle Situation geändert. Wir hatten innerhalb kürzester Zeit einen Schulleiter. Es kamen viele Reaktionen und Aufmerksamkeit von Medien und Politik. Man hat uns ganz einfach gehört.

Was hat die Schule aus dieser Episode gelernt?

Es haben alle was gelernt, nicht nur wir alleine. Auch die Politik und der Bezirk. Zum Beispiel, dass Schulen, die in Brennpunkten liegen, einer ganz besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Ein ganz großer Punkt war, dass wir die Elternarbeit intensiviert haben. Heute haben wir arabisch und türkisch sprechende Sozialarbeiter. Dadurch konnten wir die Kommunikation mit den Eltern verbessern.

Was können andere Schulen mitnehmen, wenn sie auf die Rütli-Schule gucken?

Es ist schwierig, Rezepte zu schreiben. Jede Schule ist anders und hat andere Schüler. Ich bin überzeugt davon, dass viele Schulen in Berlin schon auf einem guten Weg sind. Es hört sich schnell so an, als ob nur die Rütli-Schule viel machen würde und der Rest nicht, aber so ist das absolut nicht.

Die Zusammensetzung der Schüler hat sich seit 2006 kaum verändert. Die Mehrheit hat Migrationshintergrund, viele Familien beziehen Sozialleistungen. Wieso kommen die Lehrer heute besser mit ihnen zurecht?

Genau, wir haben im Grunde keine anderen Schüler, nur die Perspektiven für sie sind andere. Die Hauptschule war für die Schüler damals eine Sackgasse, sie hatten nur eine sehr begrenzte Möglichkeit danach eine gute Ausbildung zu finden, geschweige denn noch höhere Schulabschlüsse zu erreichen. Es gab früher Schüler, die auf der Hauptschule gelandet sind, obwohl sie vorher am Gymnasium waren. Das waren meist frustrierte Schüler. Gerade in junge Männer haben Familien oft ihre Hoffnungen gesetzt und wenn sie denen nicht gerecht werden konnten, dann kam es oft zu Verhaltensauffälligkeiten in der Schule. Ohne Hauptschule ist das Ziel offen, und es gibt viele Möglichkeiten, einen Abschluss zu erreichen.

Der Reuterkiez, in dem die Schule liegt, verändert sich derzeit stark. Junge, hippe Menschen ziehen dorthin. Macht sich dieser Wandel an der Schule bemerkbar?

Mir wird das vor allem dann bewusst, wenn ich abends aus der Schule komme. Gerade im Sommer sitzen draußen überall junge Leute. In der Grundschule erkennt man erste Veränderungen in der Zusammensetzung der Schülerschaft.

INTERVIEW: ANNA BORDEL