Der Sandino kehrt zurück

Alte Weggefährten wollen von dem „autoritären Populisten“ Orteganichts mehr wissen

AUS MANAGUA WOLF DIETER VOGEL

Die Idylle trügt. Zwar sieht man Bananenstauden und Gärten, man sieht Kinder, die hier in Las Torres unter Bäumen mit ihren Hunden spielen. Doch nur wenige Meter weiter, jenseits der asphaltierten Straße, dort, wo die unbefestigten Wege zum See führen, zeigt das Viertel im Norden von Managua sein wahres Gesicht. Stinkende Abwasserrinnsale schlängeln sich von Hütte zu Hütte, Wellblechplatten sollen die maroden Holzbauten vor den schlimmsten Wettern schützen. Hier, unter einem Vordach, sitzen mehrere junge Männer. Mit leicht abwesendem Blick taxieren sie jeden, der vorbeikommt.

„Drogen und Überfälle, viel mehr bleibt ihnen nicht“, sagt Vicenta Membreno. Die korpulente 48-Jährige ist mit ihrem klapprigen Pick-up unterwegs zur Arbeit. Sie winkt einem Anwohner auf der anderen Straßenseite zu, schaut links, schaut rechts und fährt dann langsam weiter. Vicenta Membreno kennt sich aus, sie kann erklären, was sich in Nicaragua verändert hat: „Früher garantierte der Staat das Notwendigste: Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung.“ Früher, das sind für sie die Achtzigerjahre, als die Sandinistische Befreiungsbewegung FSLN regierte. Damals baute die Sozialarbeiterin die Schule mit auf, an der sie bis heute unterrichtet, noch immer bekommen hier die Kinder aus Las Torres eine Grundausbildung. Aber heute ist alles anders, trostloser, es gibt mehr Armut. Ob daran die Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag etwas ändern können, ist ungewiss.

Vor dem Schulgebäude warten einige junge Frauen aus dem Viertel, Membreno hat sie zu Lehrerinnen ausgebildet. Stahlketten und Gitter schützen das Gelände, im Innenhof fordert ein Transparent, von Schülerinnen geschrieben: „Wehren wir uns gegen Gewalt.“

„Wir haben damals in den Achtzigern Erfahrungen gemacht, die kaum jemand auf dieser Welt machen durfte“, sagt Membreno. Die „Frente“, wie die Sandinistische Befreiungsfront genannt wird, habe nach 1979, als die Guerilleros den Diktator Anastasio Somoza gestürzt hatten, allen ein besseres Leben versprochen: Nahrung, Gleichberechtigung, Gesundheitswesen. Und Bildung für alle. Viele Menschen haben sich damals in Las Torres angesiedelt, weil sie vor dem von den USA finanzierten Guerillakrieg im Norden hierher geflohen waren. „Ja“, sagt Vicenta Membreno, „wir mussten damals mit vielen Einschränkungen leben: der Krieg, die US-Blockade, die Mangelwirtschaft.“ Doch das sei nur ein Vorgeschmack auf das gewesen, was sich seit 1990 in Nicaragua verändert habe. Nachdem damals die Liberale Violeta Chamorro an die Regierung gekommen sei, habe sich die Situation immer weiter verschlechtert. „Viele Menschen waren damals kriegsmüde und haben deshalb die Sandinisten abgewählt. Aber jetzt gibt es gar keine Politik mehr im Interesse der Armen.“

Fragt man bei der Frente nach, fällt das Urteil noch vernichtender aus. Die Liberalen hätten das Land in den Abgrund getrieben, sagt FSLN-Fraktionschef Edwin Castro. Mit Abgrund meint er vor allem die Privatisierung des Gesundheits- und des Bildungswesens und den ungerechten Freihandel mit den USA. Der FSLN-Abgeordnete lebt am anderen Ende Managuas, nahe dem Club Terrasa, es ist eines der besseren Viertel. Seinen polierten dunkelgrauen Caravan zieren zwei schwarz-rote Fähnchen, Zeichen der sandinistischen Revolution. Mit 4.000 Dollar Monatsgehalt gehört der Mittfünfziger zu den Großverdienern im Land. Doch wenn Castro von den Armen redet, spricht er ausschließlich über die letzten 16 Jahre konservativ-liberaler Politik: „1990 waren 20 Prozent der Nicaraguaner ohne Arbeit, heute sind es 65 Prozent. Und trotz des Krieges waren damals nur 12 Prozent Analphabeten, heute haben wir dreimal so viele.“

All das will die Frente nun ändern, die Nicaraguaner müssten ihr nur noch einmal ihr Vertrauen schenken. „Friede, Arbeit, Wohlstand“ – an jeder Straßenecke verspricht die FSLN auf rosafarbenen Wahlplakaten die Wende. Wieder ist es „Comandante“ Daniel Ortega, der die Partei an die Regierung bringen soll. Der ehemalige Guerillero und spätere Regierungschef hat bei den letzten drei Wahlen erfolglos kandidiert, diesmal räumen ihm die aktuellen Umfragen gute Chancen auf die Präsidentschaft ein (siehe Kasten). Grandiose Veranstaltungen sollen ihm zum Sieg verhelfen.

So etwa kürzlich in Managua. Tausende sind hierher in jene Gegend gekommen, die zwar alle „Zentrum“ nennen, die aber seit dem Erdbeben von 1972 nie mehr eines geworden ist. Ruinen stehen noch immer zwischen zusammengezimmerten Hütten, Brachflächen sind mit Schutt, Unkraut und Müll bedeckt. Der Nationalpalast, dessen Besetzung durch die Guerilla 1979 die Revolution einleitete, ist heute das Nationalmuseum. Auf der gegenüber liegenden Platzseite deuten moderne Regierungsgebäude vorsichtig neue Zeiten an, während die Metallskulptur eines Kämpfers mit erhobener Waffe und aufgesteckter schwarz-roter Fahne revolutionäre Moral anmahnt. „Nur die Bauern und Arbeiter gehen bis zum Letzten“, zitiert eine Tafel den Vater der Unabhängigkeitsbewegung Augusto Sandino.

„Viva Sandino“ brüllt es aus den Lautsprechern. Und da kommt er. Auf einem weißen Pferd, die blau-weiße Nationalfahne über die Schultern gelegt, reitet Daniel Ortega auf seine Anhänger zu. Der schnauzbärtige 61-Jährige ballt die Faust und beginnt seine Wahlkampfrede. Er spricht von den vier Millionen Armen, von den verlorenen Söhnen, die in den reichen Norden ziehen mussten, vom „wilden Kapitalismus“. Jeder Satz ist mit sanften Gitarrenklängen unterlegt, das Ganze könnte auch eine Predigt sein. Die Kirche, die Unternehmer, die Liberalen – Ortega lässt in seiner Rede keinen der alten Gegner aus. Denn er hat Erstaunliches zu verkünden: Mit allen habe die Frente Frieden geschlossen. Als Beweis führt er seinen Vizepräsidentschaftskandidaten an. Jaime Morales Carazo kennen viele hier noch aus den Zeiten des Bürgerkriegs, damals war er Führer der Contra-Banden.

Unter anderem wegen solcher Bündnisse haben sich viele frühere Weggefährten von Ortega losgesagt: der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal, die feministische Autorin Gioconda Belli, der Schriftsteller und frühere Vizepräsident Sergio Ramirez. Auch Carlos Mejía Godoy will von dem „autoritären Populisten“ Ortega nichts mehr wissen. Noch heute spielt der bekannteste Musiker des Landes in Managuas Konzertsälen die alten Revolutionslieder. Doch wie viele Sandinisten der ersten Stunde hat sich der 63-Jährige der Erneuerungsbewegung (MRS) angeschlossen. Für sie kandidiert er als Vizepräsident. „Ortega hat in der FSLN keine internen Wahlen zugelassen“, kritisiert er seinen früheren Weggefährten, „nur er selbst durfte als Kandidat aufgestellt werden.“ Und das obwohl die Sandinisten immer gegen Personenkult gewesen seien. „In der Frente“, sagt Mejía Godoy, „war jeder ersetzbar.“ Vor allem empört ihn der Pakt, den Ortega mit dem liberalen Expräsidenten Arnoldo Alemán geschlossen hat. Durch stabile parlamentarische Mehrheiten sichern sich die beiden bis heute die Kontrolle über zentrale Institutionen: den Obersten Gerichtshof, den Nationalen Wahlrat, den Rechnungshof. „Die beiden teilen sich die Macht und schützen sich gegenseitig“. Alemán wurde 2002 wegen Korruption zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, dank Ortegas Hilfe wurde seine Strafe in Hausarrest umgewandelt.

Sonnenbrille, langes offenes Haar, Ketten, ein cooles T-Shirt – der Blick auf den Wahl-Flyer der Ortega-Gattin Rosario Murillo lässt nicht vermuten, wie weit die Versöhnung gehen kann. Publikums- und wahlwerbewirksam ließen sich die beiden kürzlich vom konservativen Kardinal Miguel Obando y Bravo nach 27-jähriger Beziehung trauen. Das Paar hat mehrere gemeinsame Kinder und ist seit Jahren standesamtlich verheiratet. „Wir lieben Gott über alles“, erklärt Murillo bei dieser Gelegenheit, deshalb sei für sie klar: „Nein zur Abtreibung, ja zum Leben“. Prompt stimmten vergangene Woche alle FSLN-Abgeordneten für ein Verbot medizinisch begründeter Schwangerschaftsabbrüche.

Nicht nur wegen solch prinzipienloser Anbiederungen sind viele nicaraguanischen Feministinnen von Ortega regelrecht angewidert. „Er soll seine Stieftochter mehrfach vergewaltigt haben“, empört sich die ehemalige Guerillera Monica Baltodano, „aber bis heute konnte er sich der strafrechtlichen Verfolgung entziehen. Er hätte nie wieder kandidieren dürfen, ohne die Sache aufzuklären.“

Eine knappe Autostunde von Managua entfernt liegt die Kleinstadt Masaya. Hier bereiteten sich die Sandinisten einst auf ihre große Schlacht gegen Somoza vor. Als Hochburg galt der indigen geprägte Stadtteil Monimbó, hier waren die Rebellen sicher. Rafael López war zur Zeit des sandinistischen Befreiungskrieges noch ein kleiner Junge. Heute leitet er in Monimbó die „Möbelkooperative Tonio Pflaum“, die 1982 mit deutschen Solidaritätsgeldern gegründet wurde. Kinder, deren Eltern im Krieg gegen die Contras gestorben waren, sollten hier eine Ausbildung, eine Lebensgrundlage bekommen. „Klar, damals waren wir alle Sandinisten“, meint der 37-Jährige, „aber inzwischen ist es doch einfach nur ein gutes Geschäft geworden, Abgeordneter zu sein.“ Nach der Wahl am Sonntag gefragt, schaut er nachdenklich. „Nun ja, mein Vater ist damals für ein Ideal gestorben. Schon deshalb werde ich wohl sandinistisch wählen.“

Sandinistin? Ja, das sei sie noch immer, sagt auch die Sozialarbeiterin Vicenta Membreno. „Aber keine Danielistin!“ Sie setzt auf die sandinistische Erneuerungsbewegung MRS. „Könnte sein, dass die Wähler der Frente eine letzte Chance geben“, meint Membreno, „aber um ihre Versprechen halten zu können, müsste sie ihre Strukturen grundlegend verändern. Dazu ist die FSLN nicht fähig.“

Für Daniel Ortega stehen die Chancen gut: Laut Umfragen liegt er deutlich vor seinem Gegner Eduardo Montealegre. Präsident wird er aber nur, wenn er im ersten Wahlgang gewinnt. Denn in einer Stichwahl würden viele alte Sandinisten eher den liberalen Kandidaten wählen, sicher nicht ihren alten Weggefährten.