„Istanbul ist meine Parallelwelt“

Istanbul hip zu finden, ist nicht nur politischem Willen geschuldet, sondern auch der Liebe zum Shopping und zum Leben am Wasser. Ab heute sendet RBB Radio Multikulti drei Tage lang aus Istanbul: Ein Interview mit dem Redakteur Cem Dalaman

INTERVIEW KIRSTEN RIESSELMANN

taz: Herr Dalaman, Sie sind in Istanbul geboren und aufgewachsen. Jetzt kommen Sie als Journalist wieder in die Stadt. Nach Hause?

Cem Dalaman: Als ich geboren wurde, hatte Istanbul noch zwei Millionen Einwohner – heute sind es 15 Millionen. In meiner Kindheit und Erinnerung ist Istanbul eine sehr ordentliche, fast italienische Stadt – wie Mailand oder Rom. Ende der Siebziger versank die Türkei dann im Chaos, im Bürgerkrieg. Mein Vater wurde nach Berlin versetzt, und für meine Familie fing ein neues Leben an. Wir sind alle in Berlin geblieben und haben uns da eine neue Heimat erschaffen. Im Jahr 1993 bin ich zum ersten Mal wieder nach Istanbul gekommen – seitdem ist die Stadt meine Parallelwelt, von der ich nicht loskomme.

Aber Sie leben weiterhin in Berlin.

Tja, am liebsten wäre mir wohl, Berlin läge in Istanbul. Ich liebe Berlins Ordnung und Sauberkeit und bin immer noch vollkommen fasziniert von der Sonntagsruhe. Das gibt es in Istanbul ja gar nicht: Hier ist sieben Tage die Woche 24 Stunden lang Rushhour.

Diese Istanbuler Parallelwelt gibt es für viele Deutsch-Türken wohl schon länger. Warum aber fangen die Deutschen erst jetzt an, sich für die Stadt zu begeistern? Wowereit reiste 2005 zum ersten Mal nach Istanbul, obwohl seit 1988 eine Städtepartnerschaft besteht. Auch Radio Multikulti kommt erst nach 12 Jahren türkischem Programm.

Ich glaube, das hat damit zu tun, dass das Bild der Deutschen von den Türken zu lange von den Türken in Deutschland geprägt war. Das generierte viele Vorurteile, die ich teilweise sogar nachvollziehen kann: Vater läuft vorne, Mutter hinten, der Türke als sozial Benachteiligter, als Problemfall. Dass sich das gerade ändert und der deutsche Fokus sich auf Istanbul richtet, ist, glaube ich, einem politischen Willen geschuldet: Es gilt, die Türkei als Bollwerk gegen die islamistische Welt zu etablieren, sie als Beispiel dafür herzuzeigen, dass ein gemäßigt islamischer und ein demokratischer Staat zusammenpassen können. Darüber hinaus steckt in der Türkei natürlich auch ein Riesenpotenzial für deutsche Unternehmen – das hat auch Wowereit als Minirettungsanker für die Berliner Wirtschaft begriffen.

Sie glauben aber, Istanbul ist noch aus anderen Gründen interessant?

Natürlich, die Stadt produziert eine enorme Dynamik. Die jungen Türken in Deutschland wissen schon längst, wie modern die Stadt – trotz islamistischer Tendenzen – ist, und kommen immer mal wieder für ein paar Tage hierher, um Energie zu tanken.

Was werden die deutschen Hörer nach drei Nachmittagen am Radio über Istanbul wissen?

Dass es eine Stadt gibt, in der Multikulturalität schon längst zur Tradition geworden ist. In der die Binnendifferenzierung unglaublich hoch ist: Araber, Türken, Inder, Griechen und Armenier, internationale Business- Leute in Goldgräberstimmung, Schickimicki-Viertel neben religiösen Enklaven, Gypsies neben Shopping-Centern, Ostanatolien neben dem französischen Designerladen. Und eine deutsche Community: 10.000 Deutsche leben, oft schon seit Generationen, in der Stadt und haben ihre Kultur mitgebracht – eine deutsche Buchhandlung, eine deutsche Schule, ein deutsches Krankenhaus, das Goethe-Institut, die Metzgerei Schütte, die immer noch als einzige in ganz Istanbul Schweinefleisch verkauft. Und die meisten Istanbuler Deutschen sprechen noch nicht mal Türkisch. Sie halten es weder für nötig, noch werden sie dazu gezwungen. Vielleicht könnte man mal fragen, ob Berlin mit seiner Forderung nach Deutschkenntnissen im Sinne einer wirklich internationalen Stadt nicht eher rückschrittlich ist.

Quantitativ hat die Kultur in Berlin mehr zu bieten als Istanbul: Mehr Kunst, mehr Theater und eine größere Musikszene, in der es nicht nur ein paar Etablierte und eine Heerschar von Nachwuchsbands gibt, die Coverversionen spielen und noch mitten im Aneignungsprozess „moderner“ Popkultur stecken. Deswegen noch einmal ganz persönlich die Frage an Sie: Was an Istanbul ist denn nun so hip?

Das kann ich bestimmt nach den drei Sendetagen hier besser beantworten. Aber aus meiner Sicht ist es momentan die unglaubliche Vielfalt der Ausgehkultur, die entsteht, weil es hier keine Beamtenmentalität gibt, alle sehr viel arbeiten und vielleicht zwei Wochen Urlaub im Jahr haben. Deswegen machen die Leute ihre Abendstunden zu einem privaten Miniurlaub. Dazu kommt das überwältigende Shoppingangebot, vom Ramsch bis zu den internationalen Designern, und der Clash der Lebenskulturen. Geografisch hip ist Istanbul durch den Bosporus, das fließende Wasser, das Kraft bringt und die Stadt zusammenhält. Alle halten sich am Wasser auf. Nicht nur in ein paar vereinzelten Strandbars.