JETTE GINDNER LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: „Accelerate“: Nostalgie nach einer Zukunft

In der Berliner Buchhandlung Pro qm stellte der Merve Verlag letzten Montag sein Buch „Accelerate“ vor. Akzelerationismus ist „das neue Ding“ in Theoriekreisen, und Merve bespielt damit geschickt den Markt: Fünf Jahre nach der „Bankenkrise“ ist Kapitalismuskritik gesellschaftsfähig wie lange nicht.

Doch was bringt uns die Analyse der „Beschleuniger“ wirklich? Sie erklärt zunächst alle bisherige Kritik für gescheitert: „Die Linke ist total erschöpft, am Ende“, behauptet bei der Buchpräsentation Alex Williams, bezieht sich dabei aber fast nur auf Alain Badiou. Dagegen empfehlen die Akzelerationisten (darin den Marktliberalen ähnlich), Entfremdung im Kapitalismus zu beschleunigen, statt sie zu bekämpfen. „Es gibt kein Zurück“, bekräftigt Robin Mackay ihre These. Die akzelerationistische Utopie besteht in der Selbstauslöschung des Menschen in Technik und Fortschritt. Aber wer die beschleunigenden Akteure sind und wie der Kapitalismus in die Krise gestürzt werden soll, das bleibt an diesem Abend unklar.

Stimmt es überhaupt, dass sich der Kapitalismus seit den 1970er Jahren beschleunigt hat? Hat er sich nicht vielmehr verlangsamt? Die Wertschöpfung stagniert, und die reale Produktion überlebt nur mithilfe kreditbasierter Finanzprodukte, deren Beschleunigung – wie zuletzt 2008/2009 – beim Ausfall realer Wertschöpfung in der Krise auf Null zurückfällt. Akzelerationismus ist weniger eine Lösung als ein Symptom, lesbar als „Nostalgie nach Bildern einer kapitalistischen ‘Produktivität’“, die, am Wert gemessen, längst nicht mehr existiert. Diese Lesart legt zumindest der Theoretiker Benjamin Noys nahe: Sein Buch „Malign Velocities: Accelerationism & Capitalism“ erscheint am 31. 10. bei Zer0 Books.

Kein Wunder also, dass Steven Shaviro bei der Berliner Buchvorstellung Akzelerationismus nur als „radikal neue Ästhetik“ anpries – die (feministische) Utopie einer Fusion von Mensch und Maschine erfand Donna Haraway allerdings schon 1985.

■ Jette Gindner studiert Literatur und Theorie an Cornell University