Lautreaktionen im Feuer

Ein sprachlicher Gestaltungswille bis in die Morpheme und Phoneme hinein: „brinnen“, der zweite Gedichtband von Anja Utler

Schon mit ihrem ersten Band, „münden – entzüngeln“, hatte die Lyrikerin Anja Utler, ein knappes Jahr nachdem ihr 2003 der Leonce-und-Lena-Preis zugesprochen worden war, ein beeindruckendes Stück poetischer Arbeit vorgelegt. Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und Phoneme hinein gingen der Zerlegungs- wie auch der Gestaltungswille in den ersten Gedichten. Utler zu lesen war ein Erlebnis, bedeutete jedoch zunächst eine im Wortsinn gehörige Anstrengung, und man war gut beraten, einen verlässlichen Satz Lexika zur Hand zu haben.

Auch für den zweiten Band empfiehlt sich nun zumindest ein etymologisches Wörterbuch in Reichweite: „brinnen“, so der Titel, ist die mittelhochdeutsche Form von „brennen“. Aber es ist auch ein Brennen im Innern und bezeichnet sehr konkret die poetische Vorgehensweise Utlers. Aufspaltung, Verschmelzung, Oxidation – die physikalisch-chemischen Reaktionen im Feuer. Was hier so brennend miteinander reagiert, sind das Subjekt und die Sprache, wobei sich das Subjekt zwangsläufig von Beginn an inmitten der Sprache befindet, selbst Sprache ist und in der Sprache ein Objekt, ein Du findet: „und: lichte, ja / richt mich: dir zu“.

Man könnte das Buch als ein großes, vielteiliges Liebesgedicht lesen. Die dramaturgische Struktur und ein gelegentlich aufscheinender erzählerischer Gestus in den ersten beiden Sequenzen legen das nahe: „haben wir das: nur versehen uns – // blicklings, so: ineinander geschwirrt, / sind wirs, -irrt, dass ein jedes: schrickt // nicht weiter nicht wir: verwickeln uns / ja –“. Aber damit bliebe man an der Oberfläche kleben. Es ist erotische Literatur in einem sehr spezifischen Sinn, nämlich einem über die Sprache alle anderen Sinne kumulativ ansprechenden: „dieses viele dies: salz! von den immerfort / tastend- den nägeln, der zunge es zehrt / zerrt: alles feuchte hervor aus mir / krustet, in furchen, mich aus // sagst – // lass mich ich // ich –“.

Für die ästhetische Lesart spricht vor allem die dritte und finale Sequenz des Bandes, die dem von Apollon gefolterten Marsyas gewidmet ist: „dem entinnert sein: klagen“. Dieses Entinnern ist selbstredend zugleich ein Entäußern, dem Mythos nach ein qualvolles Enthäuten. Was danach unter der Haut sichtbar wird, ist das Brennen im Innern.

„brinnen“ wirkt zugänglicher, offener als sein Vorgänger. Der Text ist im Querformat gedruckt, die Strophenfragmente sind über die Seiten verteilt, erscheinen neben-, unter- und übereinander. So ist der Leser von Beginn an Teil der sprachlichen Vorgänge. Er verkörpert buchstäblich das Subjekt, indem er gezwungen wird – von sanfter Hand, doch sehr bestimmt –, die einzelnen Passagen in der Gleichzeitigkeit mit anderen, mit all ihren Interferenzen, Rückkopplungen und Überlagerungen auch gegen die gewohnte Laufrichtung zu lesen. Bestenfalls wird ihm dabei eine Wahrnehmung zuteil, „als habe sich auch, ja: gerade vom auge / die haut geschält –“.

Zu diesem Band ist bei merz & solitude eine CD erschienen, auf der Anja Utler zwei mögliche Lesestrecken durch die Anfangskapitel des Textes sehr präzise einspricht. Die Aufnahme ist mit Dopplungen und Überblendungen auf mehreren Tonspuren bearbeitet, was einerseits konsequent ist, da sich nur so die Simultaneität der sprachlichen Vorgänge akustisch abbilden lässt. Andererseits aber bleibt es eben „nur“ ein akustisches Abbild, wenn auch ein kurzfristig faszinierendes. Der eigene Leseprozess jedoch ist spannender.

NICOLAI KOBUS

Anja Utler: „brinnen“. Edition Korrespondenzen, Wien 2006, 64 Seiten, 13,50 Euro„brinnen“. Lyrik-CD. merz & solitude, Stuttgart 2006, 15 Euro