Ein Schauermärchen

KATER Konfetti, Raketen, wir sind Weltmeister, yeah … yeah? Schweiß klebt, Straßen ver-stopfen, irgendwo läuten Glocken – und Eltern ver-bringen Samstage künftig am Fußballfeldrand. Über den Schrecken nach dem Sieg

Filterkaffee in der Peripherie

Wir sind Weltmeister – und der DFB jubelt: Der 4-Sterne-Turbo wird den Vereinen wieder Tausende Nachwuchskicker zutreiben. Viele Mamas und Papa werden sich jetzt breitschlagen lassen – und frühmorgens an Fußballfeldern in der Peripherie bitteren Filterkaffee schlürfen statt im Bett eine Latte macchiato.

Aber wenn es denn nun sein soll – welcher Verein wäre der richtige für den Nachwuchs?

Antwort 1: Jeder Verein ist gut, der ab der G-Jugend beidfüßiges Spiel trainiert – schwacher Fuß war gestern. Antwort 2: Keiner. Sosehr der DFB sich bemüht, das Heranführen an den Tretsport spielerisch zu ummänteln, es geht immer um Leistung. Zu Saisonende wird ausgesiebt; die einen Trainer halten sich bei der Rhetorik von „die Mannschaft-nicht auseinanderreißen“ etwas länger auf, die anderen machen kurzen Prozess – nur so geht Spitze. Glauben Sie nicht? „Wir erlernen diesen Sport mit zwei, drei, vier Jahren nicht, um Spaß oder Freude zu haben, sondern um in diesem Alter bereits zu lernen, was es heißt, zu gewinnen.“ Hat gerade Paul Breitner gesagt – Weltmeister.

Vergessen Sie also nicht: Ihr Kind spielt im Verein, nicht Sie, ja? Wenn Sie sich messen wollen, treten Sie doch gleich ein, spielen Ü40, werden Trainer. Ihr Kind wird es Ihnen danken. Denn Erwartungsdruck von außen – den hat’s im deutschen Fußballwesen schon genug. AMBROS WAIBEL

Nur noch Ätherleib

Das waren Fußballer, die von Mitteleuropa da hinaufgekommen waren und nun wieder zurückfuhren. Alles wartete gespannt auf die Abendblätter. Auf was warteten sie? Auf den Ausgang des Fußballspieles!

Also viel mehr als für irgendein Ereignis, das mit Wohl und Wehe von Millionen Menschen etwas zu tun hat, interessieren sich heute die Leute für diese Dinge, die nach und nach den physischen Leib wegziehen vom Ätherleib, so daß der Mensch überhaupt nurmehr ein Erdentier wird.

Jetzt macht der Mensch Sport; nicht nur Turnen, sondern Sport. Dieses heutige Treiben von Sport, wo auch viele Menschen teilnehmen, die gar nicht sich zu erholen brauchen, was ist denn dies?

Der Ätherleib will fortwährend tanzen, runde, schön runde Bewegungen machen, und der Beefsteakessende, der kann nicht nach. Je mehr Sport getrieben wird, desto mehr vergessen die Menschen das Geistige. Was ist heute am meisten international? Das Fußballspiel!

RECHERCHE: ELISABETH BAUER

Aus dem Gesamtwerk des Anthroposophiebegründers Rudolf Steiner. Es umfasst 354 Schriften

Menschen wie Wasser

Da war kein Durchkommen zwischen Start und Ziel. Die Menschen standen dazwischen. Schwarz. Rot. Gold. Ihre Freudenfahnen waren gebügelt, ihre Siegensschreckblässe gewichen. „Komm ich da durch?“ „Nein!“ Also sind alle stehen geblieben. Auch die mit den Aktentaschen. Auch die mit dem Chihuahua. Sie warten auf die Jungs, die Jungs! Sie stehen, drängen, riechen Schweiß. Endlich wieder Gelegenheit, Berliner Nähe zu spüren. Das Zusammenstehen. Das Zusammenfließen. Menschen wie Wasser. Wie Treibgut mit seelenverhangener Sehnsucht. Das ist historisch in der Stadt, dass man zusammenfließt, eins wird. Aufmärsche, preußische Hybris, deutsche Hybris. Im Faschismus sind Masseninszenierungen der menschlichen Dimension entledigt, zur Mauerzeit kam die Nähe als kollektiver Schutz zurück. „Sieht man schon was?“ „Ja, da, der Bus.“ Dann kommen sie. Die Helden. Wie Dummies sehen sie aus. „Thomas, Thomas!“, ruft einer. „Ist das wirklich Müller?“ Da zeigt sich das Ungläubige. Egal. WALTRAUD SCHWAB

Und Gott rief

Vermutlich, denke ich, ist es Einbildung. Vieles spricht dafür: die den Geist lähmende Schwüle nach dem Platzregen, die Chinaböller; der Jointdunst, der von den Sitznachbarn herüberweht.

Aber dann, ganz langsam, wird der Sound lauter, aus Richtung der Christophoruskirche kommt er, seine Heiligkeit schockierte mich schon als Kind: Glockenläuten, mitten in der Nacht. Haben Betrunkene den Turm gekapert? Oder ruft Gott, spontan, zur Messe nach der WM?

Auf der Sonnenallee, Berlin-Neukölln, haben sie ihn jedenfalls überhört. Stattdessen Anarchie: Eckkneipenstammgäste, die routiniert Raketen in den Himmel feuern, Menschen, die ihre fahnenbedeckten Körper aus Autofenstern halten, Taxifahrer, die müde hupen.

„Nein“, teilt der Sprecher des Erzbistums Berlin am nächsten Morgen mit – es war keine Einbildung. Aber wer war’s? „Der Pfarrer“, sagt die Sekretärin des Pfarramts, sie klingt verzweifelt, „ist im Urlaub.“ Und Murat, der im Spätkauf gegenüber arbeitet – er hat „mehrmals aufgeschaut“ und nie jemanden entdeckt. Aber beim Geläut, so erzählt er, da war „Gänsehaut“.

PHILIPP RHENSIUS

„ Maria bewegt sich nicht“

sonntaz: Frau Ewels, Deutschland ist Weltmeister. Heißen Kinder in Zukunft vor allem Mario und Manuela?

Andrea-Eva Ewels: Als Lena Meyer-Landrut 2010 den Eurovision Song Contest gewann, haben wir in den Jahren danach gemerkt, dass Eltern ihre Töchter häufiger Lena nennen. Man wird nun untersuchen müssen, ob sich die WM auch in den Namen abbildet.

Welche Spielernamen sind laut Ihrem Namensranking gerade die beliebtesten?

Es ist immerhin einer unter den Top Ten, nämlich Lukas auf Platz 9. Aber so Namen wie Manuel gehören absolut nicht zu den beliebtesten. Der ist auf Platz 122.

Hat die Beliebtheit von Lukas mit Lukas Podolski zu tun?

Lukas war schon 1998 und 1999 weit oben auf der Skala, darum kann man höchstens sagen: Podolski trägt dazu bei, dass der Name nach wie vor beliebt ist.

Sollte der nächste Titel auf sich warten lassen, damit Namen auch vielfältig bleiben?

Seit 1995 sind Sophia und Maria die beliebtesten Mädchennamen, Alexander und Maximilian die beliebtesten Jungsnamen. Gerade die Maria scheint sich überhaupt nicht zu bewegen. Namen wie Sami, Per und Mats sind außerdem so ungewöhnlich, dass es dauert, bis die sich verbreiten. So gesehen kann die Nationalmannschaft schon die EM in zwei Jahren gewinnen.

INTERVIEW: JOSEF WIRNSHOFER

Andrea-Eva Ewels, 44, ist Geschäftsführerin der Gesellschaft für deutsche Sprache