Müssen Politiker anständig sein?
JA

MORAL Politiker sollten moralische Vorbilder sein. Doch auch sie lügen, intrigieren, plagiieren. Und viele Bürger finden das auch noch smart

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante Antworten von Leserinnen und Lesern aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

www.taz.de/sonntazstreit

Lisa Fitz, 59, ist Kabarettistin, Schauspielerin, Sängerin und Schriftstellerin

Es nicht egal, was ein Politiker im Privatleben treibt. Ich möchte keinen Kanzler mit einem Rückgrat wie eine Nacktschnecke – sondern einen mit Berufsethos. Ich möchte nicht das Gefühl haben, dass ich meinem Präsidenten jede als Praktikantin oder Rotlichtdame getarnte Spionin ins Oval Office schicken kann und er ihr gleich nachrobbt, weil er seine Libido nicht im Griff hat. Und ich möchte keinen Staatschef, der seine loyalen Liebsten demütigt und betrügt. Ein Mensch legt seinen Charakter in der Amtsstube nicht ab. Ich werde wegen ein paar abgekupferter Fußnoten in der Doktorarbeit kein Buhei machen, obwohl auch das nach Hochstapelei riecht – aber entsetzte Trauer zu heucheln um gefallene Soldaten, die man wissentlich in Todesgefahr geschickt hat, weil der große Bruder sich aufführt wie ein Kriegsmacho, das ist nicht vertrauensbildend. Als Plüschhase wie Spaßbold Helmut Metzner treten einige auf, rückgratlose Marionetten der Parteien, Konzerne oder Banken. Vielleicht sollte Angela Merkel mal einem Praktikanten eine Zigarre unter dem Schreibtisch anbieten oder sich zwei 17-jährige Callboys ins Kanzleramt holen, damit uns das Ausmaß dieser für Staatslenker so unpassenden Aktionen wieder ins Bewusstsein tritt.

Peter Sawicki, 64, war oberster Arzneimittelprüfer, die Koalition hat ihn 2010 abgesetzt

Natürlich braucht menschliche Gesellschaft Anständigkeit und Moral – im Sinne einer für alle gleichermaßen geltenden Übereinkunft, die Gesetze des Zusammenlebens betreffend. Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass sie vor Übergriffen anderer sicher sind, dass Verträge gelten, dass sie nicht belogen und betrogen, bedroht oder gar verletzt werden, sonst ist Gesellschaft nicht möglich. Seit Tagen liefert Guttenberg ein beschämendes Schauspiel, wie man Moral verbiegen und Begriffe umdeuten kann. Er greift zu unredlichen Kniffen, damit ungestraft durchgeht, was offen zutage liegt: Täuschung und Diebstahl, also Rechtsbruch durch den Abgeordneten Guttenberg, den er als Verteidigungsminister vertuscht, wiederum unter fortlaufendem Bruch demokratischer Grund- und Anstandsregeln. Kanzlerin, Bild-Zeitung und andere Guttenberg-Befürworter meinen, dass es wichtigere Probleme zu lösen gebe, als über unzutreffende Fußnoten, also die ihrer Meinung lässlichen Sünden des Verteidigungsministers zu diskutieren. Diese Argumente der Guttenberg-Befürworter klingen ähnlich denen, mit welchen selbst massivste Steuerhinterziehung zum Kavaliersdelikt verniedlicht wird. Arbeitgeber machen in solchen Fällen gern die unwiderrufliche Zerstörung des Vertrauens geltend.

Andrea Römmele, 43, Politikberaterin, lehrt an der Hertie School of Governance

Ohne Frage müssen Politiker anständig sein – sonst erhalten sie spätestens bei der nächsten Wahl von den Wählerinnen und Wählern die Quittung. Die Grundwährung des politischen Geschäfts – und das gilt auch für andere Lebensbereiche – ist Vertrauen. Natürlich geht es primär um politische Inhalte, aber diese sind meistens so komplex, dass die sogenannten unpolitischen Eigenschaften eines Politikers zunehmend an Bedeutung gewinnen. In der Wahlkampfforschung spricht man hier von einem „information shortcut“: Man beurteilt die Kandidatinnen und Kandidaten nach Glaubwürdigkeit, Auftreten, Gestik und Sprache und schließt daraus auf ihre politischen Eigenschaften. Ein paar Beispiele zeigen, dass sich Politikerinnen und Politiker auch nach einem Vertrauensverlust in ihrem Amt halten können. Allerdings erlebt Silvio Berlusconi gerade, wie sein Stil auf die Menschen wirkt. Und auch die Spendenaffäre um Roland Koch, der als „brutalstmöglicher Aufklärer“ gelten wollte und entlarvt wurde, hat stark an seinem Image gekratzt. Die beiden Beispiele zeigen, dass man den Vorwurf der Machtbesessenheit nicht so schnell wieder los wird. Ein Vertrauensverlust ist nicht nur schlecht für das Ansehen, sondern auch für die politische Karriere.

NEIN

Martin Sonneborn, 45, ist Satiriker und Bundesvorsitzender von DIE PARTEI

Nein. Warum denn auch? Sie könnten es natürlich, wenn sie unbedingt wollten, rein theoretisch. Es spricht nicht viel dagegen; außer der garantierten Erfolglosigkeit. Betrachtet man die politischen Karrieren von Hitler, Mappus, Kohl, Stalin und Gaddafi, so stellt man fest, dass Momente großer Anständigkeit kaum zu finden sind. Der Humanist Mubarak war nebenher sogar jahrelang Diktator, wie sich gerade herausstellt. Bundeskanzlerin Merkel kam über ein politisches Attentat auf den eigenen Mentor ins Amt und verschweigt offensiv ihre Tätigkeit als FDJ-Sekretärin, Lügenbaron Karl-Theodor zu Guttenberg übertrifft in seinem populistischen Wahn selbst den im Vergleich plötzlich fast sympathisch erfolglosen Westerwelle, von dessen vorbestraftem Parteifreund Graf Lambsdorff gar nicht zu reden; geschweige denn vom CDU-Lügner Roland Koch, der zu Recht und endlich am 1. März in den Bau geht (Bilfinger Berger). Es ist schon bezeichnend, dass die Partei DIE PARTEI, die sich selbst als unseriös bezeichnet, mittlerweile als anständige Alternative im politischen Spektrum gesehen werden muss – und natürlich als eine erfolglose: mit 0,75 Prozent in der Hamburg-Wahl, auf St. Pauli immer noch 1 Prozent hinter der CDU.

Anke Domscheit-Berg, 42, ist Missionarin für Open Government

Politiker sind Menschen wie andere auch. Man kann sie nicht zwingen, bestimmte Charaktereigenschaften an den Tag zu legen. Es sieht auch nicht danach aus, als müsste jemand ausgesprochen anständig sein, um Karriere in der Politik zu machen. Dienstwagenaffären gibt es nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Nicht alle Politiker überleben in ihrem Posten, wenn sie auffliegen. Aber auch dann steht ihnen häufig eine Zweitkarriere als Stehaufmännchen entweder in der Wirtschaft oder doch wieder in der Politik offen. Die Causa Guttenberg lehrt uns nun auf sehr drastische Weise, für wie verzichtbar man in unserer Regierung Anständigkeit hält. Damit ist die Ausgangsfrage klar beantwortet – zumindest in der Koalition muss man als Politiker offensichtlich nicht anständig sein. Eine andere Frage ist, ob Politiker anständig sein sollten. Zweifel darf es hier nicht geben. Menschen, die für uns Gesetze machen und Entscheidungen von nationaler Bedeutung treffen, müssen den höchsten Ansprüchen an Integrität und Anständigkeit genügen – wie sonst könnten Bürger ihnen vertrauen? Eine repräsentative Demokratie fußt ja genau darauf, dass Entscheidungen delegiert werden können, weil man darauf bauen kann, dass weder Lügner noch Betrüger im Amt sind oder bleiben könnten. Was es für das ohnehin angeknackste Vertrauen der Bürger in ihre Regierung bedeutet, wenn dieser Grundsatz nun so heftig erschüttert wird, werden auch die nächsten Wahlen zeigen.

Karin Lucassen, 51, ist Leserin der taz und hat das Thema online kommentiert

Warum nur diese Aufregung wegen eines Doktortitels von einem Herrn von und zu? Politiker sind doch schon längst kein Vorbild mehr. Und bitte nicht immer dieses kleinkarierte Denken. Wir leben in einer verlogenen Gesellschaft, in der Werte wie Ehrlichkeit, Achtung und Respekt schon längst verloren gegangen sind. Ich finde es nur traurig, dass die Mehrheit dies alles auch noch toleriert, die Lügen und die scheinheilige Selbstdarstellung. Sich belügen zu lassen, nicht nachdenken müssen, ist bequem. Außerdem: Wahrheit tut ja auch weh. Vielleicht will sich die Mehrheit nicht eingestehen, dass sie von Lügnern regiert wird. Anscheinend ist man heute der Dumme, wenn man seine Kinder noch zu Ehrlichkeit und Ehrgeiz erzieht, wenn man doch mit Lügen und Betrügen viel leichter durch das Leben kommt. Ach, es ist doch schön, wenn wir uns alle gegenseitig betrügen und belügen. Bei dem Streit um Guttenberg geht es nicht nur um einen Doktortitel, sondern um die Werte unserer Gesellschaft: An echten Vorbildern fehlt es schon lange. Also nur keine Aufregung.