Brian Ferneyhough etc.
: Preis für den Komplexisten

Wie kompliziert muss, wie einfach darf Musik sein, die „ernsten“ Charakter wahren will? Dass diese Debatte sich in den Fachkreisen ausbreiten konnte, geht zurück auf Theodor W. Adorno, der sich in den ersten Jahren der Bundesrepublik vielfach und kritisch zur Entwicklung des Komponierens wie zum Zustand des Musikbetriebs äußerte. Der Disput verdankt sich dann vor allem dem Wunsch und Anwendungswillen einiger nachdenklicher, in Hochschuldiensten stehender Musiker: sie wollten Adornos „Negative Dialektik“ (um)nutzen für den Fortgang eines „dialektischen Komponierens“. Dieses teilt lebenspraktisch das Schicksal der „institutionalisierten Revolutionen“, durch die in aller Regel das Revolutionäre zur Strecke gebracht wird.

Heute wurde Brian Ferneyhough, der von einschlägigen Institutionen und einigen Freunden des besonders Subtilen in den Feuilletons seit Jahren als Großmeister des musikalisch Komplexen gefeiert wird, der Hauptpreis der Siemens-Musikstiftung zuerkannt. Das sind 200.000 Euro von insgesamt 2 Millionen, die jährlich für neue, schöne und erhebliche Musik ausgelobt werden – der letzte Preisträger war Daniel Barenboim. Gegenüber dessen Bekanntheit ist der 64-jährige Komponist Ferneyhough ein Exot. Ferneyhough hat das von der Zwölftontechnik herkommende totalisierte „serielle Denken“ und seine daraus resultierende Schreibweise mit Hilfe von Rechnern bis in feinste Verästelungen ausdifferenziert. Das führte, wie die NZZ zusammenfasste, zur „unmenschlichen Abstraktion“ – Werke wie „Terrain“ für Violine und Ensemble (1992) „legen sich wie ein Klangnetz über den Kopf und drohen einem die Luft abzuschnüren“. Die Streichquartette Ferneyhoughs, fast alle vom Arditti Quartett uraufgeführt, gelten als die technisch schwierigsten Arbeiten der Gattung. Sein als Schlüsselwerk gehandelter Zyklus „Carceri d’invenzione“ (Erfinderische Kerker/Kerker der Erfindung) nach Giovanni Piranesis fantastischen Radierungen wurde von Hörern wie Interpreten als Härtetest empfunden.

Vielleicht ist es nahe liegend, dass einer, der Anfang 1943 in Coventry geboren wurde (in einer von der Luftwaffe besonders gründlich bombardierten Stadt), sich ein Leben lang an einer „der Musik innewohnenden Sprengkraft“ abarbeitet. 2004 kam bei der Münchener Biennale Ferneyhoughs einzige Oper „Shadowtime“ zur Uraufführung. Da ging es um nicht weniger als fast alles – um das große Ganze der Kunst, Kulturtheorie, Philosophie, Moderne. Und insbesondere um Walter Benjamin, dessen Leben 1940 in Port Bou auf der Flucht vor den Nationalsozialisten endete. In der 5. Szene dieser „Gedankenoper“ wollte der Meister-Komplexist gut 800 Jahre abendländische Musikgeschichte im Schnelldurchlauf durchmessen und in Teil 11 die Form von Beethovens Großer Fuge auf 48 Sekunden komprimieren. So etwa klingt dann auch das Resultat.

FRIEDER REININGHAUS