„Jeder will, daß es Aziz war“

Wie es zur mutmaßlichen Klärung des Krefelder Brandanschlags kam, die Öffentlichkeit dabei getäuscht und politischer Flurschaden angerichtet wurde  ■ Von Bernd Müllender

Ortstermin Krefeld-Stadtmitte. Genauer: „Stadtmitte“, eine schlichte Eckkneipe, wo das kleine Bier noch trinkfreudige 1,80 Mark kostet. Vielleicht wird man einmal sagen können, daß in diesem unscheinbaren Sauftreff der Grund lag für die schweren deutsch-türkischen Verwerfungen der vergangenen Woche.

In der Nacht zum Ostermontag, kurz nach 2 Uhr, stand, gut einen Kilometer südlich der „Stadtmitte“, die Wohnung der türkischen Familie Demir im Hochhaus Alte Gladbacherstraße 31 in hellen Flammen. Ein Mordanschlag, mit Benzin ausgelöst. Mutter, Sohn und eine Tochter kamen ums Leben. Zwei weitere wurden schwerverletzt. Eine liegt bis heute im künstlichen Koma.

Ostermontag, mittags, zehn Stunden nach der Tat, erzählt Stadtmitte-Wirt Roland Schürmann, sei die Polizei bei ihm aufgetaucht: Ob denn Familienvater Aziz Demir, wie von diesem behauptet, den ganzen Abend bis nach 2 Uhr dagewesen sei? „Ja, das habe ich bestätigt, der Aziz war hier.“ Da könnten die Herren Kommissare auch andere Gäste fragen. Demir schien ein astreines Alibi zu haben. Im Umfeld der türkischen Familie gab es keinen weiteren Tatverdächtigen. Am Nachmittag begannen die Gerüchte über politische und rassistische Hintergründe. Marodierende Fascho-Banden? Skins? Die PKK?

Doch Roland Schürmann ist seinen Stammgästen nicht nur ein guter Wirt, sondern auch sich selbst ein sehr guter Gast. „Wir hatten durchgefeiert“, sagt er heute über die Osternacht in seinem Krefelder Schürmann-Bau und deutet dabei ein alkoholbedingtes Schielen an, „nur gut, daß meine Frau noch etwas klarer war am nächsten Tag und das alles rekonstruiert hat“. Das Ergebnis ehelicher Erinnerungsarbeit stand in krassem Gegensatz zur vorschnellen Zeugenaussage: „Meine Frau hat dann abends bei der Polizei angerufen und gesagt, daß der Aziz nur von eins bis halb zwei hier war.“ Das Alibi war geplatzt.

Dennoch galt Aziz Demir (42) weiter als Zeuge und offiziell bis Donnerstag abend als nicht tatverdächtig. Was aufklärungstaktisch vielleicht klug war, aber außenpolitisch ein Debakel. Merkwürdig: Demir hätte jederzeit untertauchen können, die Polizei bestätigte der taz ausdrücklich, er sei „nicht überwacht worden“. Erst knapp drei Tage später, am Donnerstag nachmittag – die türkische Innenministerin Aksener hatte gerade ihren widerlichen Brand-Satz von sich gegeben: Die Deutschen könnten die Türken nicht rausschmeißen, nun würden sie sie verbrennen –, meinte ein Krefelder Polizeisprecher sybillinisch zur taz: „Ach, wissen Sie, man sieht so viel Derrick – wer da alles Alibis hat oder vorgibt, vor allem nachts, in Gaststätten ...“

In der darauffolgenden Nacht wird Aziz Demir festgenommen, angeblich so plötzlich, daß auch der Sprecher des Innenministeriums am Freitag von „einer überraschend zeitnahen Ermittlungsarbeit“ faselt. Die Mordkommission erklärt Demir für zweifelsfrei überführt. Die üblen türkisch- deutschen Anwürfe verflüchtigen sich über Nacht. Genauso schnell, wie die Plakate „Mölln, Solingen – jetzt Krefeld“ vor der ausgebrannten Eigentumswohnung der Demirs verschwunden waren.

Die Polizei erklärt, es gebe ein Video. Eines von einer BP- Tankstelle, ein paar Blocks vom Tatort entfernt. Zu sehen ist, Timecode Ostersonntag 22.46 Uhr, etwa drei Stunden vor dem Feuer, ein Mann, der Benzin in einem Reservekanister kauft. Der Oberstaatsanwalt erklärt, er erkenne Aziz Demir auf dem Video „recht gut“. Zudem hätten, so die Polizei, Bekannte den Aziz Demir, verdächtigerweise ein führerscheinloser Nichtautofahrer, an der Tankstelle getroffen. Gefunden wurde diese ebenfalls bereits abends am Ostermontag.

Seit der Verhaftung schweigt Aziz Demir. Anwalt ist sein Landsmann Adnan Menderes Erdal, der als Nebenkläger die Opfer des Solinger Brandanschlages, die türkische Familie Genç, vor Gericht vertreten hat. Am Dienstag hat Erdal „mehrfach laut lachen müssen“. Das war bei der richterlichen Vernehmung von zwei wichtigen Belastungszeugen, die Demir in der Nacht mit Benzinkanister vor dem Haus gesehen haben wollen. Denn die beiden seien „in wesentlichen Punkten so widersprüchlich und unglaubwürdig gewesen, daß ich wirklich den Eindruck gewonnen habe, hier sind Kopfgeldjäger am Werk und keine Zeugen.“ Eine üppige Belohung von 50.000 Mark nährt des Anwalts Argwohn. Auf eine Frage, berichtet Erdal, habe er vom gleichen Zeugen drei völlig verschiedene Antworten bekommen. Unter anderem wollen die Zeugen Aziz Demir um 22.30 Uhr mit vollem Kanister gesehen haben. Da aber war er – siehe Video – noch gar nicht an der Tankstelle gewesen.

Schon am Freitag war Erdal verblüfft gewesen über die innigliche Arbeitsweise der Krefelder Behörden: Niemandem wurde beim Ermittlungsrichter das belastende Videoband gezeigt: Es gab nur fünf Videoprints, laut Erdal indes so unscharf, daß nicht erkennbar sei, welche Kleidung der Gefilmte trage. Nicht mal der Richter selbst wollte das Video sehen. Dennoch erließ das Gericht Haftbefehl.

Aziz Demir: Sandstrahler von Beruf, seit über 20 Jahren in Deutschland, bis Ostern unauffällig. Einer von 14.000 Deutschtürken in der Viertelmillionenstadt Krefeld. Mit der Verhaftung wird er augenblicklich als Ausbund von Sünde und Laster gebrandmarkt: spielsüchtig, versoffen, gewalttätig, hochverschuldet. Ein Tyrann. Die Ehe sei zerrüttet gewesen. Gattin Fadime wollte sich, so eine Zeugin laut Polizei, angeblich gleich nach Ostern scheiden lassen.

Hauseingang Alte Gladbacherstraße 31, diese Woche. Die türkischen HausbewohnerInnen winken ab: Nein, sie sagen nichts. Manche senken den Kopf. Ob sie sich schämen für ihren Landsmann? Ob sie glauben, für Aziz sei die scheidungswillige Gattin ein Motiv gewesen? Im Erdgeschoß rechts sitzt ein Mann auf dem Balkon und sagt: „Ich weine jeden Tag, wenn ich die verbrannte Wohnung sehe.“ Ein anderer deutscher Bewohner kommt vorbei: „Jeder will, daß es Aziz war.“ Ja, weil jetzt wieder Ruhe sei und nach fünf Nächten die fürchterliche Angst vorbei. Die Angst, daß der Feuerteufel wiederkommt. Daß man als nächster dran wäre. Daß doch Faschos am Werk waren. Vor dem Haus sind Möbel gestapelt. Ein halbes Dutzend Familien sei in einer Woche gegangen.

Ob die beiden Aziz Demir die Tat zutrauen? Der eine: „Wer sonst? Aber zugeben darf er es doch nicht, sonst kommen Landsleute und machen zack: Kehle durch.“ Der andere: „Vorher hätte ich so etwas keinem Menschen zugetraut. Wer das getan hat, ist irgendwie nicht von dieser Welt ...“

Wenn es Aziz Demir war, ist er ein begnadeter Schauspieler: Noch während der Löscharbeiten hatte er versucht, wie von Sinnen, in die Wohnung einzudringen. Tags darauf gab er Interviews als fassungsloses Opfer, das weinte („Ich fühle einen unendlich tiefen Schmerz“) und Rache schwor. Und vom türkischen Botschafter Vural ließ er sich inniglich die Hand schütteln und kondolieren.

Drei deutsche Mitbürgerinnen gehen mit dem Hund Gassi rund um das Brandhaus. „Klar war der das“, sagt die eine. Keift die andere, „der hat ja schon lange seine Frau geschlagen. Und die Kinder auch.“ Woher sie das wisse? „Ach, man hört viel. Die Polizei war auch oft da, seit Monaten.“ Kühl die Jüngste: „Türken halt“. Nein, persönlich gekannt hat die Demirs keine der drei. „Nur vom Sehen. Aber was der Vater so getrieben hat. Diese Frau! Da drüben wohnt die jetzt“, sagt die Älteste und weist zum Nachbarhaus.

Die Damen haben Bild gelesen. Hier legte zu Wochenbeginn die Prostituierte Inge S., „die Geliebte des Türken“, Zeugnis ab. Sie sagt, sie traue Aziz die Tat nicht zu („den Sohn nannte er seinen Sonnenschein“). Und gleich bringt „Bild“ hintenherum die Todesstrafe ins Spiel: „Wenn er es war“, sagt Inge S., „dann soll er verbrennen, sterben wie seine Familie.“

Krefeld hat einen idealen Sündenbock. Aber keinen Tatbeweis. Spekulationen sind geblieben. Alles nur ein Trick der Polizei, die die wahren Täter in Sicherheit wiegen will? Oder Demir festgenommen hat, damit sich das politische Chaos, nachdem man es mitangerichtet hat, erst mal ordnen läßt?

Aziz Demir hatte 96 Stunden Zeit zu verschwinden – warum blieb er in Krefeld, und auch noch beim Schwager? Wie konnte er so dreist sein und sich seines – hier im Wortsinne – getürkten Alibis so sicher? Der Oberstaatsanwalt gibt zu, es sei nicht mehr nachvollziehbar, wer alles zur Wohnung einen Nachschlüssel hatte, wer also Zugang gehabt haben könnte. Er sagt auch, es lasse sich nicht mehr rekonstruieren, ob die Wohnungstür offen, zugeschlagen oder zugeschlossen war, als der Brand wütete. Raum für neue Spekulationen.

Und: das aus Sicht der Ermittler beweiskräftigste Indiz, die Videoaufnahme, bleibt der Öffentlichkeit vorenthalten. „Aus verfahrenstechnischen Gründen“, sagt Polizeisprecher Adolf Wunder zur taz, weil man „nicht öffentlich vorverurteilen“ wolle. Jetzt soll das Bundeskriminalamt, mit technischen Tricks, bessere Bilder vom Magnetband herunterkitzeln. In den nächsten Tagen, sagt Wunder, gehe es um „weitere beweissichernde Maßnahmen“, denn: „Auf einem Bein steht es sich nicht gut.“

So was kennt auch Derrick. Er hat wenigstens seinen Harry. Den ließe er jetzt schon mal vorfahren nach Krefeld. Um sich vom Wirt Roland Schürmann die Meinung sagen zu lassen: „Also, alle sind mir liebe Gäste, ob Marokkaner, Griechen, Türken, also auf gut deutsch gesagt, all die Kanaken. Der Aziz auch. So ein netter Kerl, ein guter Kumpel, ich kann es mir bis heute nicht vorstellen, daß er es war.“

Oder, Harry, fahr zuerst in die JVA nach Düsseldorf. Da sitzt der Aziz Demir in der Einzelzelle, Hochsicherheitstrakt. Der stellvertretende Leiter sieht ihn „sehr niedergeschlagen“ und hat ihn für selbstmordgefährdet erklärt.

Dann aber, Harry, fährst du in dieses Krefeld zum Nordwall 3. Zu den Kollegen ins Polizeipräsidium. Vielleicht wird man ja einmal sagen können, daß die schweren deutsch-türkischen Verwerfungen der Vorwoche hier ihren Anfang nahmen.