Spitzelnder Säulenheiliger?

■ Curt Meyer-Clason, renommierter Übersetzer lateinamerikanischer Literatur, soll Spion im Dienste Hitlers gewesen sein. Neue Aktenfunde in Brasilien heizen eine unterdrückte Debatte an

Keiner hat in Deutschland mehr Brasilien-Literatur übersetzt – weit über 100 Werke –, und keiner kennt sich in der Bücher- und Autorenwelt des Tropenlandes besser aus als Curt Meyer-Clason. In der Brasil-Szene ist der heute 87jährige ein Säulenheiliger. Die Kritiker der großen deutschen Feuilletons umschleichen ihn ehrfürchtig, haben seine Erzählungen, den autobiographischen Roman „Äquator“ und seine „Portugiesischen Tagebücher“ natürlich im Regal stehen. Als vor Jahren der US- Amerikaner Stanley E. Hilton im Standardwerk „Hitlers Secret War in South America“ just Meyer-Clason als Nazi-Spion bezeichnete, sich auf Gerichtsakten berief, wischte man die Vorwürfe in Deutschland als dummes Zeug vom Tisch.

Diesmal könnte es ernst werden, weil brasilianische Historiker weit tiefer in Akten und Dokumenten gruben als Hilton – und zu gleichen Schlußfolgerungen kamen. Priscilla Perazzo gehörte zum Forscherteam, widmete sich speziell der Person Meyer-Clasons und bestand gegenüber der taz vehement darauf, daß er zu einem Spionagering Hitlers gehörte, der dem Führer womöglich außerordentlich nützlich war. In einem Interview zum 85. Geburtstag spricht Meyer-Clason von vier Internierungsjahren auf der Gefängnisinsel Ilha Grande südlich Rios; seit sich Staatschef Getulio Vargas Anfang der 40er Jahre auf die Seite der Alliierten schlug, habe man viele Deutsche dort festgesetzt.

Was an Hochinteressantem nicht in dem Interview steht, erläutert Priscilla Perazzo: Gemäß Aktenlage kam Meyer-Clason auf die Insel, weil er zuvor rechtskräftig in einem Prozeß wegen Spionage für das Dritte Reich zur Höchststrafe von 30 Jahren verurteilt worden war. Viele Deutsche, so die Historikerin, wurden damals zwar verdächtigt, verhaftet und vor Gericht gestellt, mußten indessen wegen Mangels an Beweisen wieder freigelassen werden. Bei Meyer-Clason war man indessen sicher, zumal er laut den Polizeiangaben seine Agententätigkeit sogar gestand. Er gab sich als Engländer aus, sammelte Informationen über die Routen britischer Kriegs- und Handelsschiffe, übermittelte alles an die deutsche Botschaft in Rio de Janeiro, bot sich, wie es hieß, für permanente Spionagedienste an, arbeitete schließlich mit sieben anderen deutschen Agenten zusammen – von denen einige bereits gestorben sind.

Deutsche U-Boote kreuzten in den Kriegsjahren direkt vor der brasilianischen Küste, sogar vor Rio de Janeiro, torpedierten in der Einfahrt zur Guanahara-Bucht unterm Zuckerhut einen britischen Frachter, versenkten andere Schiffe die ganze Küste entlang. Meyer-Clason schrieb verschlüsselte Briefe, arbeitete mit unsichtbarer Tinte und Mikrofotografie, verwendete beim Funkverkehr Geheimcodes. Er lieferte nicht nur Routenangaben, sondern auch Wirtschaftsinformationen zwecks Aufstellung einer „Schwarzen Liste“: Welche Firmenbesitzer Brasiliens waren für, welche gegen die Achsenmächte?

Am 29. Januar 1942 wurde Meyer-Clason verhaftet – in den Inseljahren las er sich in die brasilianische Literatur ein. Priscilla Perazzo zur taz: „Würde Meyer-Clason alles über die betreffende Zeit offenlegen, täte er den Historikern des Landes einen Riesengefallen.“ Die brasilianische Qualitätszeitung O Globo konfrontierte ihn jüngst mit den Expertisen – er stritt alles furios ab: Nie habe es irgendeine Verwicklung gegeben. Die „Aktenlage“ ließ auch Mitarbeiter der Goethe-Institute Brasiliens aus allen Wolken fallen – darunter den Literaturexperten und Direktor der São-Paulo-Filiale, Dieter Strauß. Zur taz meinte er: „Jemanden zur Höchststrafe zu verurteilen ist natürlich so ein Hammer, daß man sich kaum vorstellen kann, daß alles nur Spielerei war.“

1946 gab sich Brasilien eine neue Verfassung; es bestand erstmals die Möglichkeit, um Revision zu bitten. Alle Insel-Deutschen taten dies, hatten Erfolg, auch Meyer-Clason kam frei, wurde später Goethe-Instituts-Direktor in Lissabon, dort „eine Art Galionsfigur der portugiesischen Linksintellektuellen“, wie Renate Jerosch-Herold aus Estoril jetzt in einer „Der Wendehals“ betitelten Zuschrift an die Neue Zürcher Zeitung betont. Sie erinnert daran, daß Meyer-Clason 1929 in die SA eintrat, in São Paulo 1937 Mitglied der NSDAP wurde. Und spricht von „Umtrieben als deutscher Spitzel in Brasilien“, wünscht sich „Brasilianische Tagebücher“, „in denen er mit Mut und Aufrichtigkeit die Jahre seines Lebens von 1930 bis 1945 durchleuchtet, damit der Leser ihm zumindest bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit Glaubwürdigkeit bescheinigen könnte!“

In São Paulo kommt jetzt „Modul Alemanha“ heraus. Mitautorin Priscilla Perazza gräbt die nächsten Jahre weiter in Akten über Meyer- Clason und andere Verurteilte – vielleicht hilft dies seinem Erinnerungsvermögen doch noch ein wenig auf die Sprünge. Sofern da wirklich Lücken klaffen. Patricia Sholl