Harbins letzte Russen

Die in der nordostchinesischen Provinzhauptstadt Harbin verbliebenen Russen sind Strandgut der Geschichte  ■ Aus Harbin Josef Keller

„Towarisch!“ rufen die chinesischen Fotografen beim Hochwasserkontrolldenkmal dem bleichgesichtigen Fremden auf russisch zu. Außer ehemaligen „Genossen“ aus dem nahen Sibirien verirrt sich in diesen Tagen kaum ein westlicher Reisender in den Harbiner Stalinpark. Touristen, vor allem Japaner und Auslandschinesen, besuchen die Hauptstadt von Heilongjiang, der nordostchinesischen „Schwarzdrachenfluß“-Provinz, erst zum Eislaternenfestival im Februar: Bunt beleuchtete Skulpturen und Paläste aus Eis verwandeln dann bei Temperaturen bis zu minus 40 Grad den Park in eine spektakuläre Fabellandschaft.

Die Russen aber kommen das ganze Jahr über nach Harbin und kaufen hier alles, woran es in Rußland mangelt. Und das scheinen, nach dem „russischen Markt“ zu schließen, nicht nur Textilien und Lederwaren, sondern auch Pelze zu sein. „Rußland“, konstatiert Andrej aus Krasnojarsk, „ist nicht imstande, vernünftige Waren herzustellen. Die Fabriken stehen still. China ernährt und bekleidet uns.“ Alle Russen auf dem Markt hätten eine höhere Ausbildung, klagt der 37jährige, der früher Leiter einer Garage war. Aber in Rußland würden keine anständigen Löhne gezahlt, und so müßten sie als Händler in China arbeiten.

Dabei könnte er sich hier in Harbin ein wenig zu Hause fühlen. Denn schließlich haben vor allem Russen das Bild der Stadt geprägt, seit zu Anfang des Jahrhunderts mit dem Bau der transmandschurischen Eisenbahn – sie führt durch chinesisches Gebiet bis ins russische Wladiwostok – aus dem ehemaligen Fischerdorf ein Zentrum des russisch-chinesischen Handels wurde. Vom russischen Harbin ist allerdings wenig erhalten. So stehen von den großen Kaufhäusern der Zhongyang Dajie – der ehemaligen Hauptstraße, jetzt eine Fußgängerzone – nur noch die Fassaden. Auch die Sofien-Kathedrale aus den 20er Jahren ist nur von außen renoviert: Der Innenraum, während der Kulturrevolution als Lagerraum genutzt, dient heute als Museum.

Geblieben sind nur einige Alte, die sich jeden Sonntag in der „Kirche der allerheiligsten Gottesmutter“ treffen. Michail Mjatschow ist einer von ihnen. Der 85jährige Vorsinger, der mit seiner brüchigen Stimme Mühe hat, den Raum der kleinen Kirche zu füllen, ist 1919 als Siebenjähriger nach Harbin gekommen und seitdem nie wieder in Rußland gewesen. Nach dem Gottesdienst geht er mit den anderen zu Valentina Han. Jeden Sonntag kocht sie für die kleine Gemeinde: Es gibt Suppe, Brot, Pastete, Fisch, Fleisch und Käse, und heute für Michail Michailowitsch Mjatschow auch eine Schachtel Pralinen. Ein „bescheidenes Mahl“, wie sie meint, doch für die hungrigen Alten ohne Rente ein Festessen.

Während fast alle auf Hilfe von Verwandten im Ausland und auf Pakete vom australischen „Komitee ehemaliger Harbiner“ angewiesen sind, kann sich Valentina Pawlowna mit Englisch- und Japanischunterricht noch etwas Geld verdienen. Und das trotz ihrer 73 Jahre, von denen sie während der Kulturrevolution als Angehörige der „Intelligenz“ zehn in einem Lager verbracht hat. Insgesamt seien sie noch acht „reine“ Russen, sagt sie. Sie zählt sich selbst dazu, obwohl die gebürtige Harbinerin koreanischer Abstammung ist: „Meine Eltern sind aus Wladiwostok nach Harbin gekommen, und zu Hause haben wir nur Russisch gesprochen.“

Die 200 Kinder aus Mischehen dagegen sprächen meist kein Russisch mehr. Nur ein gutes Dutzend von ihnen würde noch in die Kirche kommen. So wie Jelena Michailowitsch, die in der Kirche die Kerzen verkauft. Mit drei Jahren sei sie nach Harbin gekommen, „es muß wohl 1927 gewesen sein“, meint sie. Ihre Mutter war Russin, ihr Vater Chinese. Auch die Eltern von Valentin Setschenko, mit 62 der Jüngste der kleinen Diaspora, kamen in den 20er Jahren nach Harbin: „Weiße, die nach der Oktoberrevolution vor den Roten geflüchtet sind.“ Ins damals freie China. „100.000 Russen gab es damals in Harbin.“ Aber als 1945 die Rote Armee gekommen ist, seien viele nach Amerika oder Australien emigriert. Und die anderen dann später, unter Chruschtschow, zurück auf die „Muttererde“. Er jedoch ist geblieben: ein Russe, der Rußland nie gesehen hat.