Angriff auf die Sittenwidrigkeit

■ Zum ersten Mal wurde im Bundestag das Tabuthema Prostitution debattiert. Ein Gesetz soll die rechtliche Stellung von Prostituierten verbessern. Eine Verabschiedung dieses Gesetzes vor den Bundestagswahlen

Bonn (taz) – Das Anstandsgefühl aller „billig und gerecht Denkenden“ steht auf dem Spiel. Im Bundestag bahnt sich ein Angriff auf die im Jahr 1901 festgelegte „Sittenwidrigkeit“ der Prostitution an. Zum ersten Mal debattierten am Mittwoch Volksvertreter öffentlich über das Tabuthema Prostitution. Dabei gehen nach Schätzungen der Polizei in Deutschland rund 400.000 Frauen der Prostitution nach. Eine Million Männer nehmen ihre Dienstleistungen täglich in Anspruch. Die überwiegende Mehrheit der zehn geladenen Experten bestärkte dann auch die Mitglieder des Ausschusses für Familie und Frauen in ihren Reformvorhaben. „Die Sittenwidrigkeit gehört in die Lehrbücher der Rechtsgeschichte“, stellte Christine Drößler von der Frankfurter Hurenbewegung HWG klar. Der Staat habe nicht die Aufgabe, das moralische Verhalten von Prostituierten zu beurteilen.

Bei der öffentlichen Anhörung ging es insbesondere den Abgeordneten von SPD und den Grünen darum, Zweifel an ihren Gesetzesentwürfen auszuräumen, die beide auf eine verbesserte rechtliche Stellung der Prostituierten zielen. Denn laut Gesetz ist die Prostitution in Deutschland zwar nicht verboten, aber „sittenwidrig“ (Paragraph 138 BGB). Dies hat zur Folge, daß die sogenannten Sexarbeiterinnen zwar steuerpflichtig sind, jedoch keinen Rechtsanspruch auf Honorar oder Zugang zur gesetzlichen Sozialversicherung haben. Die SPD beschränkt sich in ihrem Entwurf darauf, das „Entgelt für sexuelle Dienstleistungen als rechtswirksame und einklagbare Forderung“ festzuschreiben, also Prostituierte als Selbständige zu betrachten. Die Grünen hingegen streben darüber hinaus die rechtliche Absicherung abhängiger Arbeitsverhältnisse an, also Lohnarbeit in Bordellen.

Ursula Nelles, Professorin am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster, räumte radikal mit dem Verdikt der Sittenwidrigkeit auf: „Es wird den Bürgern abverlangt, daß ihr Anstandsgefühl nicht hinter der Auffassung eines billig und gerecht denkenden Amtsrichters zurückbleiben darf“, spottete sie. Aber das „Halten“ von Prostituierten in „Legebatterien“ sei nicht sittenwidrig, sondern strafrechtlich unbedenklich. Die Vorsitzende des Deutschen Juristinnenverbandes spielte damit auf die verbotene „Förderung der Prostitution“ an. Danach handelt der Betreiber eines Bordells rechtswidrig, wenn er komfortable Arbeitsbedingungen für Frauen schafft.

Auch die Abgeordnete Ilse Falk, Mitglied der CDU-Frauengruppe, findet die Doppelmoral beim Thema Prostitution „unerträglich“. „Das Verbot der Förderung der Prostitution schützt die Frauen nicht, sondern schadet ihnen“, erklärte sie gegenüber der taz. Auch im Bereich der Sozialversicherung müsse den Prostituierten geholfen werden. Die CDU- Abgeordnete ist aber skeptisch, ob sie in ihrer Fraktion eine Mehrheit für die Aufhebung der Sittenwidrigkeit zusammenbekommt. Auch die grüne Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk macht sich keine großen Hoffnungen: „Die Experten haben den Handlungsbedarf bestätigt, aber die CSU will im Wahlkampf keine Diskussion über das Thema.“ Sie setzt auf den 27. September: „Mit einer rot-grünen Regierung schaffen wir die Änderung“. Astrid Prange