„Der Osten ist deutscher als der Westen“

■ Der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir hat sich nach einem Streit in seiner Partei drei Tage lang in Sachsen-Anhalt über Rechtsextremismus in Ostdeutschland informiert. Sein Fazit nach der Reise: Aus Glatzen werden so schnell keine Demokraten

taz: Sie sind gerade drei Tagen durch Sachsen-Anhalt gereist. Vor Beginn Ihrer Tour haben Ost- Grüne Ihnen vorgeworfen, Sie stellten Rechtsextremismus als rein ostdeutsches Problem dar. Fühlten Sie sich unterwegs als Exot behandelt?

Cem Özdemir: Manche Leute waren am Anfang sehr reserviert, nach dem Motto: Da kommt schon wieder einer, der uns vorführen und zeigen will, wie rechtsradikal wir sind. Sehr bemerkenswert fand ich aber, daß wir auch einiges gemeinsam haben: das Gefühl des Ausgegrenztseins, das Nicht- Deutsche haben. Das geht ja den Menschen im Osten auch so. Auch im Osten hat man das Gefühl, nicht so angenommen zu werden, wie man ist. Ich glaube, daß es Ostdeutschen und Nicht-Deutschen nur guttun kann, sich besser kennenzulernen. Allerdings besteht bei einem Anteil von 1,8 Prozent Nicht-Deutschen in Sachsen-Anhalt kaum die Möglichkeit zusammenzukommen.

Das könnte das Zusammenleben ja auch erleichtern.

Nicht unbedingt. Weil hier verhältnismäßig wenige Ausländer leben, tauchen sie im Alltagsbild viel seltener auf – und wenn sie auftauchen, werden sie als besonders fremd empfunden. Die Gewöhnung daran, daß es noch eine Welt gibt außerhalb der deutschen Welt, die fand nie statt. Das ganze Gerede vom Internationalismus in der DDR hat sich doch auf Parolen beschränkt. In der Realität war diese Gesellschaft deutscher als der Westen. Die DDR war der deutschere Staat von beiden. Und das merkt man bis heute.

Gibt es umgekehrt auch unter Ausländern im Osten eine ausgeprägtere Bunkermentalität als im Westen?

Also auf Bahnhöfen zum Beispiel herrscht eine gewisse Angst, da fühlt man sich nicht überall sicher, das habe ich immer wieder gehört. Da haben Nicht-Deutsche einfach auch eine Schere im Kopf: Bestimmte Orte meidet man besser.

Die berüchtigten „national befreiten Zonen“ sind also nicht so sehr großflächige Landstriche, als vielmehr eine Fülle von Einsprengseln überall im Land: hier eine Currybude, dort ein Bahnhofseck?

Genau. Die Rechten rühmen sich natürlich mit dem Echo, das sie auf ihre Aktionen bekommen haben, das ist eine Art der Selbstbestätigung. Und den Gefallen sollte man ihnen nicht tun. Es gibt in Deutschland keine „national befreiten Zonen“, man darf sich an den Begriff gar nicht erst gewöhnen.

Können Sie verstehen, daß Ostdeutsche allergisch reagieren, wenn Sie die neuen Länder quasi als demokratisches Entwicklungsland darstellen?

In der pauschalen Form würde ich das auch nicht sagen. Es gibt ja durchaus Gemeinsamkeiten. Rechte Gewalt ist ein bundesweites Phänomen, Mölln und Solingen liegen schließlich im Westen. Aber daß Leute in der Fußgängerzone Schwarze jagen, wie 1994 in Magdeburg, und immer mehr Passanten schließen sich an, und der Rest der Bevölkerung steht drum rum, und kein einziger greift ein – ich glaube, das wäre im Westen nicht möglich. Es gibt einfach einen Unterschied in der Reaktion der Mitte der Gesellschaft, den darf man auch nicht zerreden: Im Osten gibt es einen Rassismus aus der Mitte. Die Glatzen sind nicht Arbeitslose mit der Bierpulle, die kommen aus gutbürgerlichen Elternhäusern.

Das heißt ein ökonomischer Aufschwung Ost wird den Rassismus nicht bremsen können?

Ja, ich denke, das Entstehen der Zivilgesellschaft wird hier noch sehr lange dauern. Jugendliche, die jetzt unter 18 und in diesem prägenden Alter rechtsradikal eingestellt sind, werden diese Einstellungen nicht in zehn Jahren automatisch verlieren. Sie werden dann möglicherweise keine Glatzen mehr haben, sondern Frau und Kind – aber ich glaube nicht, daß sie damit automatisch zu Demokraten werden. Hier herrscht einfach noch sehr viel Mief, da ist noch sehr viel Deutschtümelei zu bemerken.

Diese Beobachtung gilt nicht nur für Skinheads?

Das gilt für die gesamte Gesellschaft. Auf die Täter selbst erfolgt der polizeiliche Zugriff inzwischen sehr prompt. Jetzt muß man an die Claqueure ran. Es reicht wahrscheinlich, nach einem S-Bahn- Überfall einfach mal einen Zug voller Zuschauer wegen unterlassener Hilfeleistung zu verurteilen.

Politisch steht uns die größte Gefahr noch bevor. Ich habe die massive Befürchtung, daß die NPD bei den Jugendlichen in eine Bresche reingeht, wo die PDS zunehmend an Bindungskraft verliert. Der Spannungsbogen, den die PDS derzeit durchhält, ist ja atemberaubend. Im Bundestag vertritt sie eine Politik der offenen Grenzen, die so ultraradikal links ist, daß sich dagegen die grünen Positionen zur multikulturellen Gesellschaft gemäßigt ausnehmen. Auf der anderen Seite hat die PDS aber zum Teil Wähler, die gut und gern auch NPD wählen könnten. Das kann eine Partei auf die Dauer nicht durchhalten.

Das heißt, die PDS ist attraktiv für die Alten, und die NPD wird attraktiv für die Jungen?

So ist es. Wenn die NPD hier erst mal Fuß faßt, dann befürchte ich, daß sie auch mittelfristig Wahlergebnisse einfährt, die sie in die Parlamente reinbringt. Ich bin kein Freund von Parteienverboten, aber ich finde, man muß sich Gedanken machen, ob man nicht die NPD verbieten muß.

Daß junge PDS-Wähler mit der NPD liebäugeln, ist eine steile These. Wie erklären Sie sich diese Anfälligkeit für rechte Ideen?

Man tut sich hier mit der Zivilgesellschaft schwer. Wir hatten im Westen Glück, daß die 68er ihre Elterngeneration in Frage gestellt hat. Das war hier nicht der Fall. Die Leute, die das hätten machen können, sind gegangen oder wurden gegangen. Das ist ein Nachteil, den diese Gesellschaft so schnell nicht aufholen kann.

Sie benutzen immer wieder eine Sprache, die von Ostdeutschland und den Ostdeutschen als etwas Zurückgebliebenem spricht.

Ich sage ja nicht, daß die Leute etwas dafür können. Ich sage nur, daß ihnen Chancen vorenthalten wurden.

Aber Sie bleiben dabei, die sind immer noch hinter dem Westen zurückgeblieben?

Es gibt sicherlich auch Dinge, wo der Westen hinter dem Osten zurückgeblieben ist. Also was mir hier an Höflichkeit in den Umgangsformen begegnet, davon können wir im Westen was lernen. Interview: Patrik Schwarz