Historisches liegt in der Luft

Der Halbfinalsieg gegen Kroatien läßt schließlich auch die bislang eher unbegeisterten Französinnen und Franzosen in den Bann der Fußball-WM geraten  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

In der kleinen Straßenecke im 20. Arrondissement, wo sonst zwei- und vierbeinige Pariser ihr Wasser an der einzigen historischen Mauer des Quartiers abschlagen, riecht es an diesem Abend nach Bier und kräftigem Gras. 15 AnwohnerInnen haben die klapprigen Metallstühle aus dem benachbarten Bistro auf das Trottoir gestellt und vor einem kleinen Fernsehbildschirm Platz genommen, dessen Kabel aus dem ersten Stock heraushängt.

„Allez la France!“ feuert eine junge Frau mit spanischem Akzent den Bildschirm an. „Oh là, là – les Croates“, stöhnt ein paar Sekunden später der Italiener neben ihr. „Wie steht's?“ fragt in hartem nordafrikanischen Französisch jemand aus einem vorbeifahrenden Auto. „Stell erst den Motor ab“, kommt es aus den drei Stuhlreihen zurück.

Es ist Halbfinale, und die Rue des Cascades erlebt ihren ersten öffentlichen Fußballabend seit dem Beginn der WM. Bis zu dem unerwarteten französischen Spiel gegen Kroatien hatte sich in dieser hinteren Ecke des Pariser Ostens kaum jemand ostentativ für das Weltereignis interessiert. Allenfalls Apotheken und Bäckereien machten sich mit dem Ausstellen von Fußballwimpeln und Footix- Figuren gemein. Wie überhaupt die meisten PariserInnen bislang so taten, als ginge sie das Spektakel vor ihrer Haustür nichts an. Ganz im Gegensatz zu den LondonerInnen, die schon seit dem ersten Tag der WM stadtweit auf (englischen) Fußball geflaggt haben, oder den BerlinerInnen, die selbst in der U-Bahn über Lautsprecher von den FahrerInnen über Fußballtore informiert werden.

Aber an diesem Abend liegt Historisches in der Luft. Selbst der Anarchist aus der Seitenstraße bekennt sich zu seinem Fußballinteresse. Was ihn nicht daran hindert, den Nachbarn, der sich eine winzige Trikolore auf die linke Wange gemalt hat, herzlich als Chauvinisten zu beschimpfen. Bei jedem französischen Tor geht irgendwo ein Knallkörper los. Und selbst das garantiert unfußballerische Restaurant auf der anderen Straßenseite hat einen Fernseher in einer Ecke des Tresens aufgestellt, der das Spiel ohne Ton übertragt. „Wir entschuldigen uns für diese wirklich außerordentliche Belästigung“, sagt der Kellner zu den Gästen.

Beim Schlußpfiff wird un rêve bleue – ein Traum in der blauen Farbe der französischen Trikots – wahr. Das kleine Völkchen in der Rue des Cascades springt von den klapprigen Metallstühlen. Ruft „Bravo“ in den Nachthimmel. Umarmt sich. Köpft Champagnerflaschen. Gleichzeitig hämmert es auf den Balkons mit Kochlöffeln auf Metalltöpfe, als wäre Silvester. Und auf den umliegenden Straßen, die in die Stadtmitte hinunterführen, setzt ein Hupkonzert ein, das die ganze Nacht dauern soll.

Im Stade de France vergießt Nationaltrainer Jacquet Freudentränen, Staatspräsident Chirac ist vor Freude ganz unsteif, und Premierminister Jospin kann nicht mehr reden, weil er vorher so laut schreien mußte. 300.000 Menschen strömen an diesem späten Abend auf die Champs Elysées, als hätte sie jemand dort hinbestellt. Stundenlang ziehen sie auf und ab, trinken Bier und bejubeln einen neuen Helden.

Der bis dato fast unbekannte französisch-antillanische Verteidiger Lilian Thuram ist in aller Munde. Schwarze Jugendliche aus der Banlieue skandieren immer wieder seinen Namen. „Zum Glück haben wir unsere Blacks“, sagen die anderen anerkennend.

„On a gagné“ rufen alle gemeinsam. Als wäre die Weltmeisterschaft schon zu Ende. Von einem Sieg im Endspiel gegen Brasilien am Sonntag abend wagt in Frankreich noch niemand laut zu träumen.