„Liebling Kreuzberg“ oder „Hallo, Herr Kaiser“

Am Sonntag müssen die Berliner Sozialdemokraten per Urwahl über ihren Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl im Oktober entscheiden: Walter Momper oder Klaus Böger? Für die Genossen ist das keine Frage des politischen Profils, sondern allein eine der Sympathie  ■ Von Jens Rübsam

Am Freitag abend letzter Woche verschenkte Kerstin Beurich-Kusche, 29, siebzig langstielige rote Rosen, 35 an Walter Momper, 35 an Klaus Böger. Die Genossin aus Lichtenberg hatte die Geste mit Bedacht gewählt. Rote Rosen, „weil das die Farbe unserer Partei ist“. Rosen mit Stacheln, „weil ihr die Basis nie vergessen sollt“. 35 Rosen, „weil wir bei der nächsten Wahl 35 Prozent schaffen wollen“. Rosen für beide? „Selbstverständlich. Wie hätte das denn ausgesehen, wenn ich nur einem Kandidaten einen Strauß in die Hand gedrückt hätte?“ Fürwahr: Es hätte einen kleinen Skandal gegeben.

Na und? Fast wünscht man sich in diesen grauen Tagen kleine Skandälchen in der Berliner SPD. Walter Momper, der polternde Ex-Regierende aus Wendezeiten, der wieder regieren will, scheint bei der Volkshochschule einen Kurs für gutes Benehmen besucht zu haben. Er stänkert nicht mehr, er lästert nicht mehr, er wählt feine Worte. Das Markigste, was ihm noch über die Lippen kommt, ist ein launiges „grobschlächtig“. Aber selbst da gibt es schon keinen Unterschied mehr zu Klaus Böger, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Abgeordnetenhaus, der ebenfalls gern Berlin regieren würde. Nur: Wenn Böger „grobschlächtig“ im Munde führt, kommt der Verdacht auf, er will den Berlinern beweisen, „Leute, auch ich beherrsche eure Schnauze“.

Man kann es also hin- wie herwenden: Redet Momper wie Böger? Böger wie Momper? Oder Böger wie Diepgen, der Noch-Regierende von der CDU? Programmtisch sind zwischen Momper und Böger nicht viele Unterschiede auszumachen. Vielleicht der: Der eine, Momper, ist gegen den Wiederaufbau des Stadtschlosses, der andere, Böger, nicht. Wie entscheiden?

In zwei Tagen ist Urwahl. 20.544 SPD-Mitglieder haben die Wahl: Momper oder Böger? „Liebling Kreuzberg“ oder „Hallo, Herr Kaiser“? „Mann von gestern“ (Böger über Momper) oder „Leiter einer Sparkasse oder AOK-Filiale“ (Pro-Momper-Flugblatt über Böger)? Eine Wahl zwischen Pest und Cholera, hört man gelegentlich die Basis mosern.

Schauen wir uns um.

Es ist Samstag morgen, kurz vor zehn, die Mitglieder der Regierungsbezirke Mitte, Tiergarten Wedding, sitzen in einer Schulaula und erwarten die Spitzenkandidaten zur „Prüfung“. Als erster eilt Walter Momper herbei, unausgeschlafen sieht er aus. Er schüttelt Hände. Zunächst die Hand von Arbeitssenatorin Schöttler, die ihm liebevoll über den Arm streicht. Dann die Hände von „Hallo, Herbert“ und „Hallo, Hans“. Dann die Hände von ganz vielen Damen und Herren „Hallos“. Und wären noch ein paar mehr Hände dagewesen an diesem Morgen, Walter Momper hätte sie auch noch geschüttelt. Er legt den Mantel ab, versteckt den roten Schal gewissenhaft in der linken Tasche. Verstecken? Den roten Schal? Sein Markenzeichen? Nun ja. Mit dem roten Schal hat er nicht nur im November 1989 die Ost- Berliner an der Mauer empfangen und der Stadt zugerufen: „Nun freue Dich, Berlin“. Mit dem roten Schal hat er auch 1991, nach nur 22 Monaten und einem heftigen Krach, die erste rot-grüne Koalition 1991, beenden müssen.

Am Cafeteriatresen bestellt Momper Kaffee. Er löffelt etwas Zucker dazu. Klaus Böger kommt herein, aufgeräumt und stolz im Gang, so wie man ihn kennt. Es ist zwei Minuten nach zehn. Er ist zu spät. So etwas traut man dem Herrn gar nicht zu.

Es folgt fast das gleiche Ritual: Die Hand von Senatorin Gabriele Schöttler, die ihm höflich einen „Guten Morgen“ wünscht. Ein paar andere Hände. Der Unterschied: Recht schnell ist Böger durch. Er bestellt Kaffee und sucht den Weg zur Schulaula. Man möchte ihm hinterherrufen: Sei ein wenig spaßig wie Theo Lingen. Denn ein bißchen sieht er tatsächlich so aus.

In der Cafeteria hört man unterdessen eine ältere Dame ihrer Nachbarin zuflüstern: „Momper ist einfach menschlicher und symphatischer“. Am Tresen debattieren zwei Herren beflissen. Der eine sagt: „Es ist doch ganz klar, Momper steht für Rot-Grün. Böger für die Große Koaliton.“ Der andere nickt. Freilich, so ganz stimmt das nicht. Seit etwa eineinhalb Jahren nicht mehr.

Bei der Bundestagswahl sackte die CDU in Berlin auf 23,7 Prozent ab, die SPD erholte sich von ihrem Wahldebakel von vor vier Jahren (23,6 Prozent) und ist wieder stärkste Kraft. Böger verspürte einen „Wechselbeat“. Die Große Koalition aber will er „ordentlich zu Ende bringen“. Das muß ihm lassen. Er ist verläßlich. Er hat die Berliner zum Sparen verdammt. Er hat die Bezirksreform mit durchgeboxt. Ob das reicht? Böger steht für die zähe Koalition mit der CDU. Für ständigen Kleinkrieg. Aber auch für deren Überleben. Es reicht, sagen viele.

Vor dem Eingang zur Schulaula stehen zwei kleine Tische. Links, mit rotem Tuch bedeckt, der vom Momper Unterstützerkreis. Mappen liegen aus: „Ich bin bereit“. Das Conterfei darauf läßt eher vermuten: „Ich weiß auch nicht so recht, wozu.“ Rechts, ganz in blau gehalten, der Böger-Tisch. Mit vielen kleinen Buttons: roter Punkt auf blauem Grund, Aufschrift: Klaus Böger. Sein Slogan: „Zukunft für Berlin“. Daneben eine Unterstützerliste, drei Mitglieder haben sich eingetragen.

Drinnen sitzen die Kandidaten auf einer lila Bühne, links an der Wand übergroß die Beatles, rechts Madonna und Marilyn Monroe. Der Rahmen täuscht. Keine Show. Kein Fight. Kein großer Applaus. Eher eine Strafstunde an einem schulfreien Samstag.

Die ersten gehen nach einer Stunde. „Wer Böger gehört hat, wählt Momper“, sagt ein Herr draußen vor der Tür. Wieso? „Ein Gefühl aus dem Bauch.“ Dann rieseln doch die Worte: Er „doziert“, er ist „oberlehrerhaft“, er bleibt „ein bißchen fremd“, er ist „überheblich“. – „Ja“, meint eine Dame, die auch auf dem Weg ist, „was soll ich von einem Kandidaten Böger halten, der sich im Fernsehen hinstellt und sagt: Laut Umfragen werde ich gewinnen?“ Nichts hält sie von einem solchen Kandidaten. „Und außerdem?“, fragt die Dame weiter, „haben Sie schon mal etwas von Frau Böger gehört?“ Nein, aber von Anne Momper. „Sehen Sie!“

Aus dem Saal dringt verhaltener Applaus. Stühlerücken ist zu hören. Und die Stimme des Moderators, der um letzte Fragen bittet.

Frau Böger? Frau Momper? Was für Fragen! „Für mich als ehemalige Ehefrau“, sagt die Dame bestimmt, „ist auch das wichtig“. Ist das wirklich wichtig? Ist das entscheidend für das Amt des Regierenden? „Letztendlich“, wird Walter Momper später sagen, „entscheidet die Sympathie für eine Person und nichts weiter.“ Er sagt das mit einem Lächeln. Er weiß, daß er ankommt an der Basis. Nicht bei den Funktionsträgern der Partei. Die haben sich bis auf wenige stadtbekannte Ausnahmen für Böger ausgesprochen. „Müssen sie ja auch, die arbeiten schließlich mit ihm zusammen“, pflegt Momper zu sagen. Aber die Basis registriert, daß er menscheln und Anekdötchen in eine Rede einstreuen kann. Die beobachtet, wie er an diesem Samstag morgen nach Veranstaltungsschluß zu seinem Wagen vor dem Schultor geht. Und daß sich Klaus Böger drinnen, auf dem Schulhof, abholen läßt.

Aber macht das, ist zu fragen, schon einen Mann zum Bürgermeister? Gute acht Jahre war Momper aus der Politik verschwunden. Verdingte sich im Immobiliengeschäft und in der Baubranche. „Ich habe einen Fachausschuß geleitet“, sagt er meist etwas trotzig, „Wirtschaft und Arbeit“. Böger hat als Fraktionsvorsitzender Schwerstarbeit geleistet.

Schauen wir uns weiter um.

Zum Beispiel in der Hauptstadtpresse, Anfang dieser Woche. Doch noch ein Skandälchen! Momper kündigt an, sich im Bezirk Reinickendorf für den ersten Platz der Bezirksliste zu bewerben. Der bisherige Kandidat (einst Momper-Freund, jetzt Böger-Unterstützer) fühlt sich verdrängt und spricht von „Schweinerei“. SPD- Chef Dzembritzki wirft Momper „Verletzung der Fairneß und Solidarität vor“. Hintergrund ist, so wird spekuliert: Parteilinke, zu denen Momper einst gezählt wurde, sägen am Stuhl des ungeliebten Berliner Parteivorsitzenden, dessen Heimatbezirk eben Reinickendorf ist. Es kommt Leben in den Wahlkampf.

Auf Veranstaltungen Anfang dieser Woche zeigt sich Böger denn auch vergrätzter und aggressiver als in den Tagen zuvor. Bei einem Treffen mit neun Kreisvorsitzenden, die ihn unterstützen, wirkt Momper dagegen gelöst und heiter. Ist er wieder der alte? Einer, der aneckt? Der aufwühlt? Der sich nicht an die Parteidisziplin hält, was ihm Gegner aus der Führungsriege der Partei so oft vorhalten, was viele an der Basis aber durchaus zu schätzen wissen: das Kantige an ihm, das Unbequeme?

Kerstin Beurich-Kusche übrigens, die Genossin aus Lichtenberg, die am Freitag noch beiden Kandidaten Rosen überreichte, hat sich inzwischen entschieden, für Momper. Warum? „Der ist mir symphatischer.“