Luftsänger, Erdmensch

■  Sein Spiel war ein Spiel war ein Leben: Zum Tod des Schauspielers Ulrich Wildgruber. Im Theater der Siebziger galt er als formlos, das der Neunziger feierte ihn als Altmeister

Die Nordsee bei Westerland. Ein Rucksack am Strand, ein Mann, eingespült im Sand. Der Schauspieler Ulrich Wildgruber hat sich in der Nacht von Montag auf Dienstag auf Sylt das Leben genommen. Seine Leiche wurde von Spaziergängern gefunden und wohl unschwer identifiziert, denn Ulrich Wildgruber war eine Erscheinung. Man sieht ihn sofort vor sich, mit wehendem Mantel. Aber nicht am Wasser stehend, sondern vielmehr daran entlanghastend, die wenigen, im Nacken langen Locken hinter sich herziehend wie einen Schweif, massig, doch graziös die Bildfläche füllend. Sicher murmelt er etwas, die Augen fahrig nach vorn gerichtet, ruft auch mal einige Worte laut aus, und plötzlich wird der Novembersturm zum Blasen der Windmaschine, das tosende Wasser zur Kulisse.

Denn wo Ulrich Wildgruber auftritt, muss die Natur verkunsten. Und sogleich ihre Scharniere offenlegen, weil die jubelnd-dräuende Geziertheit, das wuschig Auffahrende und sich um sich selbst Drehende, das ihm in seinen Rollen zur Identität geworden ist, doch stets alles andere ins Leere laufen ließ: die Einfühlungsschauspielerei, das Vorzeigen und auch die burschikose Persönlichkeitsdarstellung. Sein Spiel war ein Spiel war ein Spiel war ein Leben.

Aber falsch, Vorhang, Klappe. Zwei Wochen nach seinem 62. Geburtstag hinterließ der herzkranke Ulrich Wildgruber bei seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Martina Gedeck, einen Abschiedsbrief, fuhr von Berlin nach Sylt und ging dort, wo sich im Sommer die Reichen sonnen, ins Wasser.

Hat er Tabletten genommen, auf die Flut gewartet oder brach er zusammen? Die Todesursache sei „für den Fall irrelevant“, sagte ein Beamter der Sylter Kriminalpolizei, der ausgerechnet Peter Iden heißt, genau wie der Theaterkritiker der Frankfurter Rundschau, der Wildgrubers Karriere seit Anfang der 70er kommentierte. Der Name des zuständigen Staatsanwaltes in Flensburg ist Helmut Kanzler.

Ulrich Wildgruber wurde 1937 in Bielefeld geboren und am Wiener Reinhardt-Seminar ausgebildet. In die Theatergeschichte geht er ein als eiliger Tragöde. Am exponiertesten arbeitete er mit Peter Zadek. In Bochum, Berlin, Hamburg und Wien war er dessen Lear und Othello, Alceste im „Menschenfeind“, Dr. Schöning in Wedekinds „Lulu“, Gajew im „Kirschgarten“, schließlich Polonius im „Hamlet“, eine Inszenierung der Wiener Festwochen, die ab Januar am Hamburger Schauspielhaus zu sehen sein sollte. Zadeks Weise, die Rollen den Schauspielern unterzuordnen und Figuren nicht nur aus der Klassikerstarre zu erlösen, sondern auch vor zeitgenössischen Instrumentalisierungen zu schützen, bot den Manierismen Wildgrubers Rahmen und Geleit. Hier wurde das Gekünstelte zum Stil und zur Persönlichkeit. Im Theater der 70er-Jahre düpierte Wildgrubers Formlosigkeit, das der 90er feierte ihn als Altmeister.

Zu Beginn entfesselte sein schierer Anblick. Friedrich Luft etwa, ein Schauspielern gegenüber sonst stets fairer Theaterkritiker, bemerkte zu Wildgrubers Lear von 1974: „Es ist, als spiele die große Greisenrolle nur ein bleicher Pudding.“ Und anlässlich Zadeks Hamburger Inszenierung von Trevor Griffiths „Komiker“ wirft er ihm einige Jahre später vor, er sei „anzusehen wie eine nasse Schrippe“.

Wildgruber könne nicht stehen, nicht gehen, nicht sprechen, kritisierten auch andere. Und vor allem sei er immer er selbst. Der Theaterkritiker und damalige FAZ-Feuilletonchef Günther Rühle schrieb 1981: „Wer befreit diesen Schauspieler, diesen Bühnen-Leib, von der funktionellen Daffke-Komik, die ihn noch immer fesselt? Wenn es derzeit eine Aufgabe am Theater gibt, dann ist es die Bildung der Schauspieler vermittels der Rollen. Das Ich und seine Selbstdarstellung ist ein zu enger Erfahrungsbereich.“

Heute ist man da anderer Ansicht. Das stilisierte Ich des Schauspielers schadet den Bühnen der Postmoderne nicht, im Gegenteil. Wildgrubers schwarz angemalter Othello von 1976 ist dem Popvorwurf in die Klassizität entkommen, der ehemalige Chargeur bewohnte nun das Charakterfach. 1997 spielte er in den Hamburger Kammerspielen einen umjubelten Krapp in Becketts „Letztem Band“ und 1998 in Klagenfurt gar den Ulrich Wildgruber in dem Stück „Es singen die Steine“, das der Autor Gert Jonke für ihn geschrieben hat. „Ein Stück Naturtheater“ lautet der passende Untertitel dieses Textes, in dem ein Luftgeist zu dem vom Himmel fallenden Schauspieler sagt: „Wildgruber werde ich dich nennen, weil du mit so wildem Luftgesang in dieser Mulde plötzlich zu liegen gekommen bist.“ Das scheinbar persönlich Verletzliche war es, das Wildgrubers eitle Raumverdränger wesentlich machte. Die Sehnsucht verlieh dem massigen Körper Flügel und erdete das grobe Agieren mit sozusagen ständig abgespreiztem Zeigefinger zum allzu menschlichen Versuch, um Liebe zu buhlen. In Stefan Ruzowitzkys Film „Die Siebtelbauern“ gibt es eine Szene, in der Sophie Rois als Siebtelbäuerin dem einflussreichen Großbauern Ulrich Wildgruber ihren Körper anbietet, um das Leben ihres aufrührerischen Freundes zu retten.

Da erhebt sich der theaterhaft dämonisch gezeichnete Patriarch von seinem fettigen Mahl, geht an ihr vorbei und schiebt ihr fast beiläufig das Kleid wieder auf die Schulter. Selbstherrlich unterzeichnet er damit ein Todesurteil. Aber so, dass er es ist, der einen auch rührt. Petra Kohse