Süden wirft Norden Doppelmoral vor“

■ Der Politikwissenschaftler Michael Windfuhr über die Grenzen des Freihandels und die WTO

Michael Windfuhr ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg und war für das Bonner „Forum Umwelt und Entwicklung“ bei der Welthandels-Konferenz in Seattle.

taz : Wenn jedes Land die Produkte, die es billiger als andere Länder herstellen kann – bei denen es also „komparative Kostenvorteile“ hat –, ohne Zollschranken exportieren kann, dann steigen seine Exporteinnahmen. Mehr Handel, freier Zugang zu den Märkten – hilft das nicht gerade den Entwicklungsländern?

Michael Windfuhr: In der Theorie mögen das die Ökonomen ja immer gut finden, aber gerade für die ärmeren Länder kann dieses System so gar nicht funktionieren, weil die WTO keine reine Freihandelsorganisation ist in dem Sinne, dass sie jetzt bessere Absatzchancen für Entwicklungsländer schaffen würde. Im Gegenteil, sie ist sogar sehr unausgewogen, weil die Produkte, die für diese Länder wichtig sind – Agrarprodukte, Textilien –, die Produkte sind, wo es so gut wie gar keinen Freihandel gibt.

Wenn man den Freihandel konsequenter durchsetzen würde – dann wäre das System gut?

Dann gäbe es zumindest für manche Länder bessere Marktzugangsmöglichen. Aber die Theorie komparativer Kostenvorteile ist schon als Theorie schlecht, beispielsweise für den Handel zwischen afrikanischen Ländern, die nun mal alle Kakao herstellen.

Wie lassen sich Umwelt und Entwicklung vereinbaren? Die Entwicklungsländer wehren sich doch gerade gegen die Forderung nach Umweltstandards, weil ihnen dadurch der Zugang zu den Märkten der Industriestaaten noch mehr erschwert wird.

Umwelt und Entwicklung, das ist kein Widerspruch – auch nicht bei der Diskussion um Freihandel. Märkte führen zu Monopolbildung, zur Übernutzung von Ressourcen. Wenn man zum Beispiel den Handel mit Fisch überall liberalisiert, bedenkt man nicht, dass dieses Produkt keine unendliche Ressource ist – irgendwann gibt es keine Fische mehr. Wir müssen sehen, wo fairer Marktzugang für Entwicklungsländer sinnvoll sein kann, aber wir haben auch Güter, die wir schützen müssen.

Ein Streitpunkt sind die sozialen Mindeststandards – viele Entwicklungsländer sehen darin eine Handelsbarriere. Für die Arbeitnehmer in Ländern mit vergleichsweise hohen Sozialstandards verheißt das aber nichts Gutes, wenn sich die Produzenten nur noch an solche Mindeststandards halten müssen.

Solche Mindeststandards würden Arbeitnehmern hier nicht viel nutzen, das stimmt. Unsere Wettbewerbsfähigkeit muss durch andere Faktoren angetrieben werden, beispielsweise durch höheren Produktivitätszuwachs – aber nicht durch den Abbau von sozialen Standards. Länder wie Bangladesch z. B. werden immer noch viel billiger produzieren als die Bekleidungsindustrie in Deutschland – auch wenn sie sich gewerkschaftlich organisieren dürfen oder wenn Kinderarbeit verboten wird. Viele Organisationen im Süden kritisieren, dass die WTO das falsche Organ ist, um sich mit diesen Sozialstandards zu beschäftigen, weil sie die Logik des Freihandels verkörpert. Eigentlich müssten die Organisationen im UNO-System, die sich mit sozialen Fragen beschäftigen, erheblich gestärkt werden.

Welche sozialen Institutionen sind denn gemeint?

Zum Beispiel die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) oder das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Dessen Etat wurde beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) aber gerade um fast die Hälfte gekürzt. Diese politischen Institutionen werden derzeit also politisch geschwächt und in die WTO transferiert, die einer rein ökonomischen Logik unterliegt. Der Süden wirft dem Norden eine Doppelmoral vor. Zum einen werden Sozialstandards gefordert, zum anderen weigert sich der Norden, die sozialen Institutionen zu stärken.

Interview: Katharina Koufen