Kapitel 2

Purer Sprengstoff
von Georg M. Oswald

“Das war nicht durchgeknallt, das war Shakespeare, Herr von Becker“, rief aufgeräumt der dicke Schmidt.

“Und ich bezweifle, dass wir hier weiterkommen, wenn wir Shakespeare zitieren!“, schrie von Becker.

“Tja und ich bezweifle, dass Gossel wirklich die Protokolle hat“, warf die Dunkle aus dem elften Stock ein.

“Nun, er hat sie. Ich weiß es. Ein taz-Redakteur hat sie ihm zugespielt. Das heißt: mit der Post geschickt. Woher der sie allerdings hat - Fehlanzeige.“ “Taz?“, fragte die Blonde.

“Die Tageszeitung. So ein linkes Spinnerblättchen aus Berlin, das ständig die Welt retten will. Ist immer kurz vor dem Eingehen und findet dann wieder neue Abonnenten, die es am Leben halten. Wir wollten denen mal den Titel abkaufen für unsere Hauszeitschrift. Haben die nicht hergegeben. Echte Überzeugungstäter. Extrem gefährlich“, murmelte Ludwig Kristlein. “Was hätten die für einen Grund, uns die Protokolle zuzuspielen?“ “Na, ist doch logisch: ein bisschen Geld verdienen und damit das Blatt und die Welt retten.“

“Geil!“

“Sagt mal, Freunde - habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Bin ich hier in irgend so ein prähistorisches Anarchisten-Happening geraten, oder was?“, der dicke Schmidt schäumte und lüpfte vor Erregung sogar seinen Hintern ein wenig aus dem USM-Haller-Sessel. “Wir machen hier Unterhaltungsfernsehen. Uh-enn-tee-err-ha-aa-ell-tee-uh-enn-gee-ess-eff-eh-err- enn-ess-eh-ha-eh-enn. Ganz einfach. Kapiert? Es geht hier nicht um Protokolle. Es geht um das Drama. Das ganz große Drama!“

Er wollte noch weitersprechen, aber der Atem versagte ihm, mit krebsroter Birne ließ er sich zurück in den Sessel fallen, der ihn, den Unförmigen, so elegant wie leise auffing. Konrad Vigant, der Melancholiker, sprang ihm bei, den Blick wie ein Visionär in eine der oberen Zimmerecken gerichtet: “Ich weiß, was er meint. Er meint, da ist am Anfang ein sehr dicker Mann -“ “Danke!“, ächzte Schmidt.

“Schon gut. Also so ein Dicker. Das heißt, zu Beginn ist er noch nicht ganz so dick. Aber er ist einer, über den alle lachen. Er ist eine Lachnummer, als er Geschichte studiert. Schon weil er einen Sprachfehler hat und deshalb immer ,Gechichte' sagt. Er wird Ministerpräsident. Und alle lachen. Er wird Bundeskanzler. Und alle lachen. Und dann kommt die Wiedervereinigung. Und keiner lacht mehr. Und der Dicke behauptet, er habe sie gemacht. Und jeder glaubt es. Und plötzlich ist er der größte Kanzler der ,Gechichte' - so groß wie Bismarck.“

“Wie wer?“, fragte die Blonde.

“Ja“, fuhr Vigant fort. “Und dann kommt diese Spendenkiste über ihn und haut seine ganze ,Gechichte' kaputt. Mensch, seht ihr denn nicht, was da für eine Fallhöhe drin ist? Das ist doch irre!“

“Das ist doch alles Bullshit“, sagte die Blonde. “Wenn das hier irgendeine Zukunft haben soll, müssen wir uns überlegen, wie wir die Rollen besetzen sollen.“

“Also gut. Brainstorming. Wer könnte hier wen spielen?“, stieg der dicke Schmidt, der sich ein wenig erholt hatte, wieder ein. “Günther Strack fällt als Helmut Kohl ja leider aus“, zischte van Becker. Die anderen hatten für van Beckers Zynismus nichts übrig, sie riefen durcheinander:

“Hans Meiser!“

“Zu dünn!“

“Harry Wijnvoord!“

“Zu Schnauzbart!“

“Und wer spielt Hüning-Bürland?“

“Gaby Dohm!“

“Gebongt!“

“Aber Kohl?“

“Diether Krebs ist leider auch schon vergeben“, raunzte van Becker. “Kohl ist schwierig. Mal sehen, wer die anderen spielen könnte: Leisler Kiep?“

“Leisler Kiep!“

“Sehr witzig.“

“Nein, Leisler Kiep wird von Heiner Lauterbach gespielt. Glaubt ihr nicht? Stellt euch den mal vor mit 'ner weißen Mittelscheitelperücke. Das knallt!“ “Gekauft! Vorläufig! Weiter, weiter!“

“Was fällt euch zu Wolfgang Schäuble ein?“

“Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, presste van Becker hervor.

“Das ist destruktiv!“, protestierte die Blonde.

“Da mögen Sie wohl Recht haben“, konterte van Becker. Konrad Vigant ließ ein ostentatives Seufzen hören. Alle drehten sich nach ihm um. Und als reiche ihm dieser Effekt nicht aus, wiederholte er sein Seufzen.

“Also, was haben wir denn auf dem Herzen?“, fragte die Dunkle aus dem elften Stock mit gespielter Mütterlichkeit.

“Ich mag mich wiederholen, aber die Situation erfordert es. Ihr müsst klar sehen: Wir müssen den Zuschauern das bieten, was uns kein Protokoll der Welt liefern kann.“

“Und das wäre?“, fragte van Becker.

“Eben das, was Gossel gesagt hat - die Wahrheit“, fuhr Vigant fort. “Und Sie kennen die sicher, die Wahrheit“, stellte van Becker schneidend fest.

“Ja, ich kenne sie.“

Jetzt staunten sie alle wirklich nicht schlecht.

“Wir müssen“, sagte Vigant, “die Wahrheit nicht kennen, um sie den Leuten präsentieren zu können. Ich will nicht in Rätseln sprechen. Ich sehe da folgende Schlüsselszene vor mir. Das Jahr 1990. Die Bundestagswahl steht vor der Tür. Die Mauer ist im Jahr zuvor gefallen. Die deutsche Einheit ist auf dem Weg. Kohl zieht die Fäden, und alle anderen Weltmächte ziehen kräftig mit. Um, wie Kohl es immer ausgedrückt hat, ,den Prozess der Einheit nicht zu gefährden', muss er die Wahl gewinnen. Kohl hat einen treuen Freund. François Mitterrand. François Mitterrand hat einen maroden Staatskonzern, Elf Aquitaine. Unser Projekt beginnt mit einem Geheimtreffen zwischen Kohl und Mitterrand. Wo? Na, im Elysée-Palast natürlich. Mit radierenden Reifen fahren im Morgengrauen schwarze Citroën-DS-Limousinen vor. Schnitt. Kohl sitzt mit Mitterrand an einem imperialen Teetischchen. Zwei Dolmetscher mit geflissentlich gesenkten Lidern daneben. Feiste Pranken umschließen zerbrechliches China. Helmut sagt: Ich muss die Wahl gewinnen, François. Und wenn ich sie gewinn, soll das dein Schaden nit sein. Das ganze Raffinerienzeugs da im Osten, Buna und Leuna, das kannst du dann ganz günstig habn, wenn du mir bei den Wahlen behilflich bist. Die CDU hat kein Geld. Wenigstens nicht genug. Und wenn du mir jetzt den Wahlkampf finanzieren hilfst, dann ist Elf Aquitaine saniert“, Vigant holte Luft, “ eine solche Szene, meine Lieben, ist purer Sprengstoff.“ “Pffff“, machte van Becker. “So sieht's also aus in Vigantshausen.“ “Das ist eine Verschwörungstheorie, Herr van Becker“, belehrte ihn Vigant, “und wie wir wissen, ziehen die.“