Beobachter der Außenseiter

BILDERBUCH Einwanderer, seltsame Tiere, verlorene Dinge – Oscar-Preisträger Shaun Tan hat einen feinen Blick für jene, die am Rande stehen. Für „The Lost Thing“ arbeitete er zehn Jahre an geeigneten Bildern

„Kinder haben eine anders geartete Sprache als Erwachsene“

SHAUN TAN, OSCAR-GEWINNER

VON SARAH WILDEISEN

„Unsere Geschichte handelt von einer Kreatur, der niemand Aufmerksamkeit schenkt, deshalb ist das hier ziemlich ironisch!“ Als Shaun Tan den Oscar bekam, verwies er zunächst auf den Widerspruch zwischen seiner Geschichte und der enormen Aufmerksamkeit für den Preis. Genauso ironisch ist auch, dass der 36-jährige Australier kein Filmemacher, sondern Bilderbuchillustrator ist – eine Berufsgruppe, die normalerweise selten in den internationalen Starrummel gerät und mit Millionenpublikum zu tun hat. Bie Tan ist anders. Er wurde mit Preisen überhäuft für seine Bücher wie „Ein neues Land“ und „Geschichten aus der Vorstadt des Universums“, die international Aufsehen erregte. (taz vom 21. 10. 2009)

Tan, ein eher unscheinbarer, kleiner Mann, verwandelt sich in einen Menschen mit glitzernden Augen, wenn er von seiner künstlerischen Arbeit erzählt. „Durch Kunst können wir alle miteinander kommunizieren, Kinder und Erwachsene“, sagte Tan der taz in einem Gespräch vergangenes Jahr. „Ich sehe Kinder als Menschen, die eine ein wenig anders geartete Kultur und Sprache haben als Erwachsene, aber davon abgesehen sind sie mehr oder weniger das Gleiche.“

„The Lost Thing“ war das erste von ihm nicht nur illustrierte, sondern auch geschriebene Bilderbuch, das in Australien 2000 erschien. In Bologna, wo jährlich die international wichtigste Kinderbuchmesse stattfindet, wurde sein Erstling 2001 lobend erwähnt, und ein britischer Filmproduzent horchte auf. Ob er sich vorstellen könne, aus dem Bilderbuch einen Kurzfilm zu machen? Tan konnte. Neun Jahre dauerte es, bis der 15-minütige Film realisiert war.

Den Oscar bekam er nun für diese Kurzfilmanimation von „The Lost Thing“, das als Buch 2009 in Deutschland erschien („Die Fundsache“, Carlsen Verlag). Darin erzählt Tan von einem Jungen, der am Strand ein fremdartiges Wesen findet. Obwohl riesengroß und rot, scheint niemand das Ding zu bemerken, nirgendwo scheint es dazuzugehören. In einer technokratischen Welt, die an Filme wie Terry Gilliams „Brazil“ erinnert, sucht der Junge einen Platz für die Kreatur, die auf grünlichen Tentakeln in einem Teekesselpanzer dahintrottet.

„Mein erstes Haustier als Kind war ein Einsiedlerkrebs. So ein Krebs muss sich immer ein neues Gehäuse suchen, weil er von sich aus keinen Panzer hat“, so erklärt Tan seine Inspiration für das sonderbare Wesen. „In einem übertragenen Sinn fragt ‚The Lost Thing‘ danach, welchen Platz in unserer technisierten und bürokratischen Welt unnütze Dinge wie die Kunst eigentlich einnehmen“, erklärt Tan.

Den Ort, an dem das verlorene Ding schließlich seinen Platz findet, inszeniert der Film als surrealistische Wunderwelt. Hell leuchtende Farblandschaften, bevölkert von freundlichen Kreaturen aus organischen und maschinellen Einzelteilen, die spielen, malen und Drachen steigen lassen. Man fühlt sich wie im Beatles-Film „Yellow Submarine“, in einer bunten Welt, die den kreativen Nonsens feiert. Tan: „Warum Kinder ‚The lost Thing‘ mögen? Ich glaube, Kinder wünschen sich so ein nichtmenschliches und doch haustierartiges Wesen als Freund.“

Shaun Tan ist Autodidakt und Einzelkämpfer. Wie sein Können als Illustrator, für das er außer an seiner Highschool keine Ausbildung absolvierte, brachte er sich das Filmemachen selbst bei. Unterstützung erhielt er von ein paar Freunden und dem britischen Koregisseur und Produzenten Andrew Ruhemann, der mit ihm gemeinsam den Oscar erhielt. An der Visualisierung tüftelte Tan mit einem Team von zwei weiteren Leuten dreieinhalb Jahre lang. Jedes einzelne Bild malte Tan von Hand selbst. Kaum zu glauben, denn wer weiß, wie viele Leute normalerweise an der Produktion eines Animationsfilms beteiligt sind, wird über eine solche Produktionsweise nur verwundert den Kopf schütteln. Nicht eine große Produktionsfirma steht hinter dem kleinen Kunstwerk, sondern die Ausdauer eines außergewöhnlichen Künstlers, der mit seiner surrealistischen Bildsprache Themen wie Fremdheit, Zugehörigkeit und Toleranz in visuelle Formen bringt, die offenbar auch die Juroren der amerikanischen Filmwelt berühren.