Gesichter glühten im Wind

Meine Nacht mit dem Orkan. Ein dramatischer Wahrheit-Report aus der Schorfheide

Mit Spanngurten sollten Alte und Schwache an Hydranten gebunden werden

Zwischen Silvester und Ostern steht auf dem Lande die Zeit still. Wenn kein Hofhund entweicht, sich niemand erhängt oder die Frau ersticht, ereignet sich praktisch nichts, was den Geist anspannt und die Sinne erfrischt. Die Leute werden scheu und stumpf und suchen Erregung im Fernsehprogramm.

Doch für die Nacht von Freitag auf Samstag war uns eine Katastrophe versprochen! Seit Donnerstagvormittag herrschte eine angenehme Unruhe, eine Fiebrigkeit wie vor einer Bescherung, vor einem Putsch oder in Erwartung einer neuen Besatzungsmacht. Je weiter der Abend fortschritt, desto beschwipster wurden wir. Natürlich auch vom Jägermeister, dem Helfer gegen die Angst. Aber vor allem von dem Gedanken, nun bald etwas Furchtbares erleben und womöglich wie im Mehrteiler „Dresden“ umkommen zu dürfen.

Es fing damit an, dass die drei Mütter, die das „Spatzennest“ mit Kindern beschicken, in Formation und entschlossenen Schrittes durchs Dorf eilten, um diese der Einrichtung zu entreißen. Das war wie ein Erweckungssignal! Sie hatten gehört, dass in Berlin Behörden evakuiert werden und sich Abgeordnete in Sicherheit bringen. Die fünf bis sechs ortsansässigen Schulkinder liefen bereits seit dem Morgen in den Jacken der Kinderfeuerwehr herum, klingelten alte Frauen heraus und forderten sie auf, Geräte und Gießkannen ins Haus zu nehmen, weil die zum Geschoss werden könnten.

Am Buswartehäuschen, die Citylage des Ortes, versammelten sich wie zufällig die Aktiven und die Aktivisten. Herr Braune sagte, Hamburg rechne für die Kaffeezeit mit einer verheerenden Sturmflut, und man habe Helmut Schmidt schon geweckt. Er trug dem Anlass gemäß seine Schmidt-Mütze, die eigentlich Prinz-Heinrich-Mütze heißt, das Kinnriemchen in Erwartung einer Böe bereits untergeschnallt.

Herr Frischling, der örtliche Allianz-Vertreter, verteilte orangefarbene Notfallwesten, und die Männer verkleideten sich bedächtig und ernst. In den Gärten jaulten Motorsägen auf: Angeblich zur Gefahrenabwehr entledigte man sich rasch lästiger Bäume, für deren Fällung man in Friedenszeiten beim Amt umständlich Genehmigungen einholen müsste. Einige Leute scherzten noch, ich auch. Ich sagte meiner sehr alten Mutter, der einzige neuralgische Punkt bei dem Taifun sei die Hausecke, in der sie unter der Dachschräge bettlägerig weilt. Falls die alte Linde nächtens durchs Dach bräche, solle sie mit der Taschenlampe Notsignale geben. Oder rufen, falls ihr das möglich sei.

Der Nachbar kam mit dem Auto zur Mittagspause aus seinem Katasteramt in der Kreisstadt angefahren, schlüpfte ins Haus, ließ reihum sämtliche Rollos herunterrasseln und fuhr davon – das Geschrei seiner Frau, die nicht im Dunkeln hocken wollte, nicht beachtend.

Es nieselte. „Es frischt auf“, riefen die Leute und hatten glühende Gesichter. Tatsächlich wiegten sich jungwüchsige Koniferen im Winde, was angeblich ein international sicheres Indiz für Windstärke 3 ist. Walter, früher bei der SED-Kreisleitung, seit der Wende Zeuge Jehovas, ging entrückt lächelnd und nicht nüchtern umher. „Habe ich es euch nicht immer gesagt?“, murmelte er und setzte nach: „Immer!“ Jemand berichtete, in Bernau würden Stellflächen im Parkhaus vom Shopping-Center vermietet, „für unverschämtes Geld“. Ein anderer wusste, das DRK in Eberswalde gäbe Spanngurte aus, mit denen sich Alte und Schwache an Hydranten binden sollten – aber nur einen pro Familie, man müsse sich beeilen. Sigurd Huhn von der Linkspartei rief: „Und? Wem haben wir das zu verdanken, den Klimawandel und so? Überlegt doch einmal! Man muss doch hinter die Dinge schauen.“ Und höhnte: „Wo ist sie denn jetzt, die Frau Merkel aus dem Osten?“

„Kyrill, Kyrill! Wenn ich das schon höre!“, kreischte die Zweimeterliane, die an der Volkshochschule Kurse gibt, „so ein schöner alter russischer Popenname, und die Wessis können ihn nicht aussprechen! Kachelmann hat im Wetterbericht dauernd ‚Grill‘ gesagt, das muss man sich mal vorstellen!“ – „Und dass sie ihm gerade einen russischen Namen geben“, ergänzte Sigurd, „ da muss doch jedem ein Seifensieder aufgehen!“

In diesem Moment jaulte die Sirene auf der alten Schule los, die zuletzt an einem Mittwoch im Oktober 1989 um 13 Uhr gejault hatte wie jeden Mittwoch. Sie löste Andacht aus wie Kirchenläuten. Die Leute starrten aufs Dach der Schule, als erwarteten sie, das Signalgerät könne jeden Moment abheben. „Die Sirene!“, sagte Sigurd, als hätte sich ihm eine tiefe Sehnsucht erfüllt.

Ich grub die Mülltonne knöchelhoch ein und beschwerte die Hundehütte mit Feldsteinen. Der Nachbar kam heim und flüchtete sich mit geduckten Sprüngen ins Haus. „Vor aufrechtem Gehen im Freien wird gewarnt“, rief er mir zu. Und richtig – im Fernsehen machten sie vor, wie man die Arme zu halten hat, um nicht umgeweht zu werden.

Dann kam die Dunkelheit und mit ihr ein mäßiger Wind. Die Schwiegermutter aus Thüringen rief an und berichtete stolz, alle Sender seien ausgefallen, nur nicht der MDR. Die Nachbarin versuchte, ein Rollo anzuheben, und wurde vom Fenster weggeprügelt. Gegen 20.30 Uhr sagte Kachelmann, dass es für uns noch gefährlich werden könne und man nicht auf die Straße gehen solle. Die Männer im „Eisernen Anker“, wo der Fernseher lief, riefen sofort ihre Frauen an, dass sie leider über Nacht bleiben müssten.

Nach Mitternacht donnerte es schrecklich gegen meine Tür. Die Nachbarin stand da im Morgenrock und mit einem Lampion in der Hand und sagte, ihr Mann drehe durch. Ich wollte ihr einen „Träum schön“-Tee kochen. Aber da kam schon kein Wasser mehr. Im Morgengrauen dann sah man die Leute, wie sie Wasser aus ihren Zisternen schöpften, für die Toilette und zum Kaffeekochen. Kein Tropfen Wasser mehr nach dem bisschen Wind – so was hätte es früher nicht gegeben.

MATHIAS WEDEL