Gnade keine Herzenssache

Gegner einer Begnadigung der Ex-RAF-Terroristen Mohnhaupt und Klar stellen die absurde Bedingung, die Täter müssten „Reue zeigen“. Im Rechtsstaat hat diese Kategorie keine Relevanz

VON CHRISTIAN SEMLER

Dem Bundespräsidenten steht das Gnadenrecht zu. Höchstpersönlich, auch wenn er es delegieren kann. Er darf also rechtskräftige Urteile von Bundesgerichten oder in deren Auftrag tätigen Obergerichten aufheben oder mildern. Dieses Recht ist ganz und gar nicht selbstverständlich, denn schließlich handelt es sich um einen massiven Eingriff in die Gewaltenteilung und damit in das Gefüge des Rechtsstaats.

Unter vordemokratischen Verhältnissen war die Gnade des Staatsoberhaupts unproblematisch, sie galt als Element der allumfassenden fürstlichen Souveränität. Das Gnadenrecht des Präsidenten in demokratischen Verfassungen ist ein Relikt des Obrigkeitsstaates, ist eigentlich systemfremd. Es bedarf der demokratischen Deutung.

Geht es um einen Akt der Barmherzigkeit, ausgesprochen gegenüber einem reuigen Verbrecher, der nach langen Jahren der Strafe den Weg in die Gesellschaft zurückgefunden hat? Keineswegs. Begnadigung ist keine Herzenssache. Weder auf Seiten des Verteilers noch auf der des Empfängers der Gnade. Sondern sie ist ein wohlerwogener Akt der politischen Klugheit.

Weshalb auch auf eine genaue rechtliche Ausgestaltung des Gnadenrechts-Verfahrens verzichtet wurde. Die Klugheit gebietet es beispielsweise, bei einer geplanten Begnadigung die Verwandten eines Mordopfers ebenso zu konsultieren wie die Strafverfolgungs- und die Vollzugsbehörden. Dabei wiegen die Stimmen der Opfer schwer, sind aber nur ein Element des notwendigen Abwägungsprozesses. Dies umso mehr, als beispielsweise bei der Begnadigung von RAF-Tätern durch die drei Amtsvorgänger Präsident Köhlers stets von Sprechern der Verwandten stereotyp argumentiert wurde, die verurteilten Terroristen müssten lebenslang hinter Gittern bleiben. Also die Schwere des Verbrechens stets das einzige Argument blieb.

Der Bundespräsident stößt bei der Ausübung seines Gnadenrechts auf Probleme, die mit den Mitteln strenger juristischer Logik nicht lösbar sind. Wann ist beispielsweise der Zeitpunkt erreicht, zu dem eine schwere Schuld als abgebüßt gelten kann? Welche Rolle spielt die Lebenszeit, die der Täter nach seiner Begnadigung noch zu erwarten hat, und trifft es zu, dass jedermann/frau eine zweite Lebenschance verdient, unabhängig von der Schwere der Tat? Und wie soll ein Abwägungsmodell aussehen, mit dem die Schuld des Täters gewichtet wird gegenüber möglichen „positiven Signalen“, die mit der Entlassung für den Rechtsfrieden ausgehen könnten?

Eine äußerst trügerische Sicherheit bietet das Argument, man solle den Gnadenerweis gegenüber dem Täter von dessen manifester Hinwendung zu den Opfern abhängig machen, von reuevollem Verhalten, wenigstens von Entschuldigungen gegenüber den Angehörigen der Opfer. Während der Bundespräsident Feststellungen zum künftigen Sozialverhalten der Täter berücksichtigen sollte, sind Gesten der Reue und Zerknirschung mit Vorsicht zu genießen. Denn der Präsident kann sich keinen Einblick in den „inneren Gerichtshof“ des Täters verschaffen – und er sollte es auch nicht.

Es gibt Rechtssysteme, beispielsweise das chinesische, wo Strafen, auch die Vollstreckung der Todesstrafe, häufig von der „inneren Umkehr“ des Strafgefangenen abhängig gemacht werden. Das heißt von Unterwerfungsgesten. Eine Entschuldigung an die Adresse der Angehörigen der Opfer kann eine bloß formelle Geste sein. Und Selbstanklagen als Bedingung des Gnadenerweises ein bloßes Ritual. Die Aufforderung zu Reuebekenntnissen als Voraussetzung des Gnadenerweises verwechselt christliche Reue und Sündenerlass mit dem Handeln eines Verfassungsorgans, bringt Theologie und Politik durcheinander.

Zwar bleibt richtig, dass Begnadigungen stets von der Beurteilung des individuellen Straftäters ausgehen müssen, sonst wären sie ja der Amnestie angenähert und benötigten im Übrigen auch eine gesetzliche Grundlage. Aber gerade bei schweren politisch motivierten Straftaten wie denen der RAF fällt die Beurteilung möglicher gesellschaftlicher Folgewirkungen von Begnadigungen schwer ins Gewicht. Denn zwei Jahrzehnte lang prägten nicht nur die Morde der RAF, sondern auch ungehemmte Rache und Vergeltung auf Seiten der Strafverfolgung die politische Szenerie der Bundesrepublik. Gnadenerweise könnten als späte Geste gewertet werden, dass der Staat Verfolgung und Strafe nicht bis zum Letzten auskosten will. So könnte die Gnade eine politisch integrative Wirkung entfalten. Und damit, anders als die Gnade in früherer Zeit, zur Festigung der Demokratie beitragen.