Aufbruch in die Moderne

Die arabische Welt bewegt sich doch. Selbst die Monarchen und autoritären Herrscher können den enormen gesellschaftlichen Wandel schon lange nicht mehr verhindern

In Ländern wie Marokko haben NGOs die Rolle der marginalisierten Parteien übernommen

Im Dezember 2006 erschien der vierte, vorerst letzte „Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung“ (Arab Human Development Report – AHDR) der Vereinten Nationen. Er befasst sich dieses Mal mit der Situation der Frauen in der arabischen Welt. 2003 war erstmals ein AHDR erschienen und hatte damals die Gesamtlage resümiert; der zweite Bericht beschäftigte sich mit Wissensproduktion, der dritte mit Bürgerrechten und Reformfähigkeit.

Die vier Berichte sind immer wieder als „Kronzeugen“ herangezogen worden für die Unterentwicklung der arabischen Welt. Getreu dem Motto „Der Araber sagt es ja selbst“ wurde kaum ein wissenschaftliches Dokument so häufig zitiert; auch US-Präsident George W. Bush übernahm zur Begründung seiner „Demokratisierungsinitiative“ für die arabische Welt einige Passagen wortwörtlich. Dabei wurden meist nur jene Teile zitiert, die innerstaatliche Hemmnisse sowie Stillstand behandelten. Dass jedoch jeder Bericht mit einem Kapitel über Veränderungen und Fortschritte begann, wurde übersehen – ebenso wie die scharfe Kritik der Autoren an Interventionen von außen.

Tatsächlich wird die Entwicklung der arabischen Staaten besonders im Vergleich zur Situation vor 30 bis 40 Jahren deutlich. In nur einer Generation hat der autoritäre Modernisierungsstaat eine Reihe von Verbesserungen der Lebensqualität seiner Bürgerinnen und Bürger erreicht, die fest im Gedächtnis der arabischen Gesellschaften verankert sind. Dazu gehören, auch wenn dies nur ungern festgestellt wird, Entwicklungsfortschritte im Irak unter Saddam Hussein ebenso wie in Libyen unter Muammar al-Gaddafi. Mit seinem Ausscheiden aus den Vereinten Nationen sprach sogar Kofi Annan diese ungeliebte Wahrheit aus: Für den normalen Bürger sei das Leben im Irak heute schlechter als unter Saddam Hussein, sagte er in einem BBC-Interview. In Libyen ist die Analphabetenrate heute auf 14 Prozent gesunken. Auch in Ägypten hat sich die Lage verbessert: Lag die Lebenserwartung 1976 noch bei 55 Jahren, erreichten die Bürger bereits 2001 im Durchschnitt ein Alter von 67 Jahren. Die Kindersterblichkeit sank gar binnen 30 Jahren von 15,7 auf 3 Prozent, die Analphabetenrate seit 1960 von 74,2 auf 34,4 Prozent.

Werden diese Zahlen nicht in Betracht gezogen, erscheint der anhaltende Autoritarismus umso erklärungsbedürftiger: Wieso, so die drängende Frage, können die Herrschaftsverhältnisse stabil sein, wenn die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger missachtet werden? Zur Erklärung wird meist auf staatliche Repression und Propaganda verwiesen, die den arabischen Bürger isoliert erscheinen lassen. Oder man verweist auf eine islamische Rechtsauffassung, nach der es für die Gemeinde besser sei, einen schlechten Herrscher zu haben, als gar keinen, um eine Spaltung der Gläubigen zu vermeiden. Nicht selten werden kulturalistische Erklärungen herangezogen, wonach Muslime sich einfacher als andere in ihr Schicksal fügten. Diese Auffassung hat auch dem Irakkrieg Befürworter in die Arme getrieben, die davon ausgehen, dass sich aus der arabischen Welt selbst heraus kein Wandel einstellen wird und neokoloniale Interventionen daher gerechtfertigt seien.

Erklärungsversuche dieser Art überschätzen jedoch die Wirkungsmacht der arabisch-islamischen Geschichte. Das kollektive Gedächtnis der arabischen Gesellschaften ist nämlich weder so monolithisch noch so vergangenheitsorientiert, wie man glaubt. In vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es Fortschritte, die für die Demokratisierung der arabischen Welt von Bedeutung sind. Dazu gehören, trotz aller Rückschläge: die Verbesserung der Menschen- und Frauenrechte, mehr Partizipation, wachsende Medienvielfalt und zunehmend freie Wahlen.

Wahlbeobachter haben seit 1999 einer Mehrheit der arabischen Staaten attestiert, dass Fälschungen und die Einschüchterung von Wählern seltener geworden sind. Das arabische Satellitenfernsehen hat mittlerweile eine informierte öffentliche, panarabische Meinung hervorgebracht. Und in Ländern wie Marokko und Palästina haben Nichtregierungsorganisationen die Rolle der marginalisierten Parteien übernommen, was die Meinungsbildung sowie die Rekrutierung von „Nachwuchspolitikern“ betrifft. Auch die „Arabischen Berichte über die menschliche Entwicklung“ haben positive Tendenzen registriert. Mit Blick auf Syrien, Ägypten und Libanon sprechen die Autoren sogar von einer tiefgreifenden Transformation der arabischen Zivilgesellschaft.

Solche Entwicklungen werden von westlichen Beobachtern jedoch häufig als „arabisches Reformtheater“ abqualifiziert; selbst die bloße Existenz einer arabischen Zivilgesellschaft wird in Frage gestellt. Dass die Zahl der Vereine und ihrer Aktivitäten seit Mitte der 80er-Jahre zunimmt, ist aber nicht nur eine bemerkenswerte quantitative Veränderung, sie müssen auch als „Akteure des Wandels“ betrachtet werden. Ihren Einfluss auf die politische Tagesordnung kann man am sukzessiven Aufstieg bestimmter Themen in den Medien wie in der Innenpolitik der betreffenden Länder nachweisen.

Jeder Wandel in einem noch so effektiven autoritären System hat unberechenbare und unkontrollierbare Auswirkungen. Teilreformen als Antwort des Staates auf gesellschaftliche Forderungen, wie wir sie in den letzten Jahren selbst in so sensiblen Bereichen wie dem islamischen Erbrecht erlebt haben, wirken sich daher keineswegs notwendigerweise oder ausschließlich systemerhaltend aus, sondern sensibilisieren für die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. Zudem steigern sie die Anspruchshaltungen. Nicht zuletzt auf dieser einfachen Idee beruhte der Helsinki-Prozess, mit dem die Bürgerrechtsbewegung im Ostblock gestärkt wurde – mit den bekannten Folgen.

Die Zunahme der öffentlichen politischen Kommunikation in der arabischen Welt ist aufsehenerregend

Die Reformen, die wir in den letzten Jahren in der arabischen Welt gesehen haben, wirken kurzfristig systemstabilisierend, indem sie radikalen, auf Umsturz abzielenden Bewegungen den rhetorischen Wind aus den Segeln nehmen. Sie können sich aber langfristig als Schritte zur Demokratisierung erweisen, da sie immer auch zur Verankerung demokratischer Werte in einer Gesellschaft beitragen und ungewollte Reaktionen hervorrufen – und bereits hervorgerufen haben, wie etwa die Veränderung der Medienlandschaft. Die Zunahme der öffentlichen politischen Kommunikation in der arabischen Welt ist jedenfalls aufsehenerregend.

Wenn jedoch jeglicher Wandel in der arabischen Welt weiter nur als etwas gelesen wird, was als Theater für die Weltpolitik inszeniert wird, könnten uns die interne Dynamik einer Monarchie, der eruptive Einfluss einer unabhängigen Gewerkschaft oder einer moderat-islamistischen Gruppierung eines Tages vielleicht genauso mit ihrer Mobilisierungskraft überraschen, wie es die Ostberliner Umweltbibliothek oder einige Kirchengruppen vor bald 20 Jahren in der DDR getan haben.

SONJA HEGASY